Nita

Alles begann an meinem neunten Geburtstag. Von meinen Eltern bekam ich ein Fahrrad geschenkt. Es war gebraucht - was anderes konnten sich meine Eltern nicht leisten. Die rote Lackierung wurde schon vom Rost zerfressen und die Klingel war auch schon kaputt. Trotzdem weinte ich vor Freude, als dieses Rad plötzlich in meinem Zimmer stand. Ich sprang auf, fiel meinen Eltern um den Hals, nahm das Fahrrad mit nach draußen und stieg auf, um ein paar Runden zu fahren. Die Pedale quietschten jedesmal wenn ich auf sie trat. Doch das überhörten meine Ohren. Ich fuhr so schnell, dass es hinter mir Staub aufwirbelte. Nach einer Weile war ich außerhalb unseres Dorfes und schlenderte in den angrenzenden Wald. Die Sonnenstrahlen wurden nahezu vollkommen von dem Blätterdach unterbrochen, sodass es unheimlich dunkel erschien. Plötzlich übersah ich eine große, aus dem Boden ragende Wurzel. Das Vorderrad traf hart auf, das ganze Fahrradgestell schleuderte es mit mir nach vorne und ich landete auf dem Rücken, neben mir mein Rad.
"Viktoria!" hörte ich meine Mutter schreien, während ich mich aufsetzte und am Kopf meine Beule anfühlte. Es schmerzte ziemlich.
"Viktoria! Was machst du?" Mutter stand plötzlich hinter mir und half mir auf. "Hab ich dir nicht verboten, in den Wald zu gehen? Weißt du denn nicht mehr, was den anderen Kindern passiert ist?" Sie sah meinen rechten Arm an, der mit einer großen Wunde geschmückt war. "Komm mit." Sie zerrte mich und mein Fahrrad an der Lenkstange mit sich. Mein Vater kam uns entgegen.
"Viktoria, wie oft müssen wir dir eigentlich noch erzählen, was anderen Kindern passiert, wenn sie alleine in den Wald gehen?" meckerte er.
Als wir endlich in unserem Haus ankamen, stieß mich meine Mutter unsanft auf einen Sessel bei unserem Eßtisch. Meine Eltern setzten sich mir gegenüber und sahen mich mit scharfen Blicken an.
"Neun Kinder, Viktoria!" sagte plötzlich meine Mutter. "Neun Kinder sind schon als vermisst gemeldet worden in den letzten zehn Jahren. Seit das erste Haus dieses Dorfes steht, sind sogar schon mindestens 200 Kinder einfach so verschwunden."
"Mutter!" unterbrach ich sie. "Das habt ihr mir doch schon hundertmal erzählt."
"Unterbrich sie nicht!" brüllte mein Vater. Ich erschrak und viel in die Sessellehne zurück.
Mutter seufzte. Das laute Ticken der Küchenuhr war zu hören.
"Du weißt doch noch von den drei Sagen, oder?" fragte mich mein Vater.
"Wie könnte ich sie vergessen. Denen kann man sich ja gar nicht entziehen." antwortete ich. Mein Kopf schmerzte etwas. Er fühlte sich schwer an. Ich sah auf eine Holztafel, die neben einem Familienbild angenagelt war. Auf ihr waren diese drei kurzen Sagen eingebrannt.
"Die erste Sage." fuhr meine Mutter fort. "Sie besagt, dass demjenigen, dem es gelingt, den Berg zu erklimmen und in das Schloss zu kommen, drei Wünsche erfüllt werden. Die zweite Sage: vor 7000 Jahren wurden Vampire dafür verantwortlich gemacht, dass die damaligen Besitzer des Schlosses ebenfalls zu diesen widerwärtigen Blutsaugern geworden sind und sich in den Kellern niederließen. Die dritte Sage, die jetzt für dich sehr wichtig ist: jedes Jahr kommt ein Ungetüm namens Nita in dieses Dorf und entführt eines unserer Kinder. Und, wie ich es dir schon gesagt habe, sind in den letzten zehn Jahren "nur" neun Kinder entführt worden. Das heißt, dass jeden Moment Nita auftauchen und eines unserer Kinder schnappen könnte." Sie sah mir tief in die Augen.
"Und warum hat man dieses Nita noch nie gesehen?" fragte ich. Für mich blieben diese drei Sagen das, was sie waren: Geschichten, die den Kindern zum Angsteinflößen weitererzählt wurden.
"Ja, weißt du, denn nicht mehr, dass es schon mal gesehen wurde?" erzählte mein Vater. "Der Verkäufer aus dem Lebensmittelladen schwört sogar darauf, dass er es in einer Nacht gesehen hatte, als es aus dem Brunnen trank, ihn mit grellen Augen ansah und dann wieder im Wald verschwand, gerade als er seinen Laden dicht machte und nach Hause gehen wollte."
Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Langsam verflossen meine Zweifel an der Existenz von Nita.
"Das hast du erfunden, Vater!" rief ich und rannte in mein Zimmer. Ich warf die Tür zu, schloss das Fenster und kroch im Bett unter die Decke. In dieser Nacht schlief ich sehr wenig. Oft wachte ich weinend und erschrocken auf und meine Augen ließen sich nicht mehr schließen. Es war der reinste Horror. Jeder schwarze Fleck in der Dunkelheit meines Zimmers fing an, mich anzusehen und mich mit seinen Blicken zu verfolgen. Wenn ich mein Atmen nicht hörte, ertönte wieder das leise Heulen des Windes oder die tickende Küchenuhr jagte mir Angst ein.
Nach dieser erschaudernden Nacht, die ich niemals vergaß, saß ich sehr früh zu Tisch und aß ein Butterbrot. Die Sonne schien durch die Fenster und spiegelte sich auf meinem Teller wieder. Meine Eltern schliefen noch.
Nach dem Butterbrot zog ich ein Kleid an und marschierte auf den Markt, wie jeden Sonntag, Unser Markt existierte nur, weil fahrende Händler ihre Ständchen hier aufstellten und Sachen aus der großen weiten Welt verkauften. Wir boten ihnen Frischfleisch, Gemüse und Obst. Von den Händlern kaufte unser Dorf auch Werkzeug und Getreide. Und für die reichen Leute, obwohl nur ungefähr drei davon bei uns lebten, gab es etwas Schmuck und glitzernde Stoffe.
Der Markt siedelte sich, wie üblich, am Marktplatz an. Rundherum standen ein paar Dorfgebäude. Wohnungen, eine Kirche, ein Gasthaus und der Lebensmittelladen, von dem mein Vater mir gestern erzählt hatte.
Nachdem ich Gebäck, Salat und Fleisch für die Familie eingekauft hatte, zögerte ich keinen Augenblick und besuchte den Lebensmittelladen, der wegen dem großen Umsatz von den Händlern von auswärts auch an Sonntagen offen hatte. Der Laden war sehr klein. Ein Kühlregal mit Joghurt, Milch, Käse und Butter an der rechten Wand, ein Zeitschriftenständer in der Mitte des Ladens, eine Theke, ein Kasten mit etwas Gemüse und Obst, eine Vitrine mit Geschirr und viele andere Dinge fanden aber trotz des kleinen Raumes Platz. Hinter der Theke stand der Mann in seinem Kittel, der angeblich Nita gesichtet haben soll.
"Was kann ich für dich tun, Kleines?" fragte er mich lächelnd, wobei er den Kopf zu mir hinunter senkte.
Ohne auch nur ein anderes Wort zu verlieren, stieg ich direkt ins Gespräch ein: "Erzählen Sie mir bitte, wie Nita ausgesehen hat."
"Wie bitte?" Der Verkäufer machte ein verblüfftes Gesicht.
"Nita. Wie sah es aus?" Ich stellte meinen Korb mit den Waren für die Familie neben meine Füße auf den Boden.
"Nita....hm. Wie alt bist du, Kleines? Acht? Neun?"
"Neun."
"Wieso willst du sowas wissen?"
"Weil ich die Sage nicht glauben kann."
"Kannst du sie nicht glauben oder willst du nicht?"
Ich sagte nichts. Der Mann bemerkte mein Schweigen, kam hinter der Theke hervor und hockte sich vor mich hin.
"Ich verrate dir jetzt was, aber du darfst niemandem was davon erzählen, okay?" sagte er.
"Okay." schwor ich.
"Ich glaube auch nicht an die Sagen. Diese Kinder werden nicht von einem Monster entführt, sondern bedauerlicherweise von jemand anderem. Nita ist eine Erfindung der Menschen, um besser mit den Entführungen umgehen zu können."
"Das heißt, dass es Nita nur in den Köpfen der Einwohner gibt?"
"Genau. Du brauchst also keine Angst zu haben, auch wenn dir deine Eltern, oder sonst jemand einredet, Nita gesehen zu haben."
"Aber selbst Sie sagten zu meinem Vater, dass Sie Nita beim Trinken beobachteten, während Sie abends den Laden abschlossen."
"Das tat ich nur, weil er es hören wollte. Somit wird allen bestätigt, dass Nita existiert." Er mußte lachen, stand auf und ging wieder zurück hinter die Theke, als ein Kunde eintrat.
"Also, vergiss nicht, es ist alles eine grosse Lüge!" flüsterte er mir augenzwinkernd zu.
"Danke." Ich verließ den Laden wieder, während der nächste Kunde bereits bedient wurde.
Damit war für mich die Geschichte abgeschlossen. Die Leute brauchten einen Sündenbock, erfanden schleunigst ein Sagenmonster und ließen die ganze Wut an Nita aus.
Zu Hause erwarteten mich bereits meine Eltern. Sie saßen beim Eßtisch und lasen die Zeitung.
"Hallo." begrüßte ich sie.
"Hallo, Viktoria." Meine Mutter lächelte mich an. "Hast du schlecht geschlafen?"
"Ja, wieso?" fragte ich, während ich den Korb in die Küche brachte.
"Dein Vater meint, er habe dich weinen gehört." Mutter stand auf, kam zu mir und half mit, den Korb auszuräumen.
"Ich hatte Alpträume, weil ihr mir solche blöden Geschichten einhämmert." sagte ich.
"Ach, Schatz, das tut mir leid. Das hatten wir ganz bestimmt nicht beabsichtigt. Aber du mußt mir versprechen, niemals wieder in den Wald zu gehen ohne eine Begleitperson." Sie nahm den leeren Korb und stellte ihn neben die Eingangstür. Ich ging ihr hinterher.
"Wie wär's mit einem Hund?" fragte ich.
"Viel zu teuer." antwortete sie, setzte sich wieder zu ihrer Zeitung und las weiter. "Ach übrigens sollst du deinen Vater heute beim Angeln begleiten."
"Aber..."
"Kein Aber! Du gehst mit und aus!" rief sie.
"Vater! Was soll ich dort machen?" jammerte ich.
"Zusehen, baden, ... Es gibt viele Möglichkeiten." murmelte er aus seiner Zeitung heraus.
Knurrend ging ich, ohne die Füße zu heben, in mein Zimmer und packte meine Badesachen und ein Buch in eine Tasche ein.
Nach einer halben Stunde saßen wir mit einem Freund von Vater in einem verrotteten Auto, das schon mindestens zwanzig Jahre keine Autowäsche mehr gesehen hatte. Und der Motor schien nach einer Werkstatt zu hecheln. Die Federung der Reifen quietschte unerträglich laut, die Inneneinrichtung war aus einem zerfetztem, alten, stinkendem Soff und die Fensterscheiben waren so undurchsichtig, wie die Geschichte von Nita.
An dem einen Kilometer weit vom Dorf entfernten See, der von einem Wald eingegrenzt war, ließen mein Vater und sein Freund die Angeln eintauchen und in minutenabständen Fische an Land ziehen und wieder aussetzen.
Ich lag neben ihnen auf meinem großen Badetuch und las ein Buch über Sagen. Doch ich konnte mich nicht sehr konzentrieren, weil ich von blöden Frauenwitzen, lautem Gelächter und Geschichten über Fussball umgeben war. Also lag ich mich etwas weiter weg in die Sonne und schlief ein.
Zu Hause wachte ich im Bett auf. Meine ganze Vorderseite brannte etwas von dem Sonnenbrand, den ich erhalten hatte. Aus der Dunkelheit in meinem Zimmer schloss ich, dass es schon Nacht war. Durch die Türspalten strömte noch Licht herein und ich hörte die Stimmen von meinem Vater, meiner Mutter und der des Freundes meines Vatern. Ich konnte nicht verstehen, über was sie sprachen, aber es war zu hören, dass sie Spaß hatten. In diesem Moment dachte ich an mein Fahrrad. Ich sah aus dem Fenster über meinem Bett. Das Fahrrad lehnte an der Hausmauer unter dem Fenster. So schnell ich konnte, zog ich mein Nachthemd und meine Stiefel an, öffnete das Fenster, kletterte hinaus in die kühle Nacht und in den hellen Vollmondschein, stieg auf das Fahrrad und fuhr schnell weg. Ich fuhr durch die kleinen Gassen, vorbei an den schlafenden Häusern, auf den großen Marktplatz, drehte ein paar Runden und war glücklich. Als ich völlig aus der Puste war, hielt ich kurz an und atmete tief durch. Das Zirpen hunderter von Grillen war zu hören. Ein paar Glühwürmchen schwirrten am Marktplatz umher. Plötzlich huschte etwas großes hinter meinem Rücken von einer Seite auf die andere. Hastig drehte ich mich um. Meine Atmung wurde schneller. Ich analysierte die Dunkelheit mit einem scharfen Blick, den ich langsam von einem Haus zum anderen wandern ließ.
"Ist da wer?" sagte ich mit ganz leiser Stimme.
Wieder hörte ich nur Grillen. Und auf einmal ein leises Knurren. Ich stieg so heftig auf die Pedale, dass ich abrutschte und ein lauter Knall zu hören war. So schnell ich konnte versuchte ich es wieder und mein Fahrrad beschleunigte. Ich raste durch die Gassen, in denen bereits wenige Lichter brannten, sah mein Haus bereits aus der Ferne, als mich plötzlich ein harter Schlag auf meinen Rücken traf. Mein Rad überschlug sich und ich flog in hohem Boden auf einen kleinen Grasfleck, der neben einem Weg angesetzt worden war. Mein rechter Arm schmerzte fürchterlich und Tränen ronnen über meine Wangen. Als ein lauteres Knurren zu hören war, hüpfte ich geradezu wieder auf meine Beine und rannte zu meinem Haus. Ich konnte schon meine Eltern durch das Fenster sehen, wie sie lachten und ahnungslos vor sich hin quatschten. Doch plötzlich schlug etwas auf mich ein. Einmal von vorne, einmal von hinten. Mein Körper rutschte langsam zu Boden. Etwas Weiches hielt meinen Mund zu. Ich versuchte zu schreien, doch ich konnte nicht. Meine Augen schlossen sich. Ich hörte noch ein nahes Knurren, bevor mich mein Bewußtsein verließ.

Mein Rücken war kalt. Meine Augen ließen sich nicht öffnen. Ich hörte nichts. Mir war schlecht. Überall an meinem Körper spürte ich Wunden. Ich versuchte meine Arme zu bewegen, doch sie wurden von etwas zurückgehalten an den kalten Untergrund. Meine Lunge kratzte und ich mußte husten.
"Hallo, Viktoria." Eine dunkle, rauhe Stimme sprach zu mir. Nochmals versuchte ich meine Augen zu öffnen, doch sie waren verbunden.
"Wer ist da?" fragte ich zitternd.
"Hm, du kennst mich vielleicht. Eigentlich habe ich keinen Namen, aber ihr habt mir den Namen "Nita" gegeben." antwortete die Stimme.
Was? Nita? Nita ist eine Geschichte, dachte ich. "Du bist nicht Nita. Nita existiert nur in den Köpfen der Menschen."
"Jetzt tust du mir aber weh, Viktoria. Ich? Eine Sage? Niemals." Die Stimme seufzte. Ich versuchte verzweifelt, mich zu bewegen, aber ich war wie festgeklebt.
"Du willst doch sicher wissen, wo du jetzt bist, richtig? Du bist in dem Schloss auf dem Berg, der neben deinem Dorf aus der Erde ragt. Die ganzen Dorfsagen über die drei Wünsche und die Vampire sind falsch. Es hat zwar Vampire hier gegeben, aber die sind alle verschwunden." Die Stimme legte ein kurze Pause ein. Ich fühlte mich beobachtet. Das tat ich zwar schon die ganze Zeit, aber in diesem kurzen Moment war es fast nicht mehr auszuhalten.
"Was hast du vor?" schrie ich.
"Weißt du, deine Mitmenschen im Dorf wissen nicht was ich mit euch mache. Und das ist auch gut so. Normalerweise erfahren meine Opfer, was ich vorhabe, aber da ich dich wieder zurückschicken werde, kann ich das Risiko nicht eingehen."
Ein harter Gegenstand traf auf meinen Kopf und ich verlor das Bewußtsein, bevor ich noch etwas sagen konnte.

Wieder war es kalt. Eine zähe Flüssigkeit umhüllte meinen Körper. Kalt und unangenehm. Meine Augen öffneten sich. Ich lag in einem dreckigen Sumpf inmitten des Waldes, an dem ich mit meinen Eltern schon öfters vorbeispazierte. Langsam stützte ich mich auf meine Arme, um hochzukommen. Mein Körper war sehr geschwächt und ich konnte mich kaum bewegen. Nach mehreren Versuchen stand ich auf den Beinen und sah, dass ich weder Stiefel noch Kleidung anhatte. Das einzige, das mich bedeckte, war der Schlamm. Plötzlich hörte ich Hunde von links. Ich drehte mich um und sah, wie der Förster mit seinen Hunden den Wald untersuchte. Er schien mich gesehen zu haben, da seine Hunde wie verrückt in meine Richtung bellten.
Sie kamen näher. "He! Du bist Viktoria, richtig? Was machst du hier draußen? Ohne Kleidung! Hier nimm meine Jacke."
Zitternd nahm ich die Jacke und hing sie mir um. Der Förster nahm mich auf den Arm und trug mich zum Dorf.
"Weißt du eigentlich, dass alle seit drei Tagen nach dir suchen? Deine Eltern sind schon ganz verzweifelt."
Mein Mund weigerte sich, zu sprechen.
Im Dorf angekommen, liefen mir meine Eltern entgegen.
"Mami!" schrie ich, löste mich von den Armen des Försters, sprang zu Boden und wurde von Mutter weinend umschlossen.
"Wo warst du nur? Hat dich jemand weggebracht? Und wieso mußtest du mit dem Rad davonfahren?" überflutete mich Mutter mit Fragen.
Vater bedankte sich bei dem Förster und wir gingen in unser Haus. Mutter bereitete ein Bad für mich vor.
Während ich in der Wanne saß, die sich immer mehr mit warmen Wasser füllte, stand meine Mutter neben der Wanne und sah mich an. "Wo warst du?"
"Auf dem Schloss." antwortete ich ihrer Frage.
"Ha." machte sie. "Tut mir leid. Hast du irgendwas gesehen? Oder gehört?"
"Gehört... Eine Stimme. Nita. Ja, Nita sprach zu mir." sagte ich, während ich weiter nachdachte.
Mutter schloss die Augen, senkte den Kopf, öffnete die Augen wieder und fuhr mit dem Verhör fort. "Was sagte Nita?"
"Nur, dass die Sagen mit den Vampiren und mit den drei Wünschen Blödsinn seien und dass Nita in Wirklichkeit gar keinen Namen hat. "Nita" bekam es von uns."
"Bist du dir da sicher?" Mutter schien, als ob sie alles unglaubwürdig fände, was ich ihr anvertraute.
"Ja."
Sie stellte den Wasserhahn ab, da der Wasserspiegel mir schon bis zum Hals stand. Ohne etwas zu sagen, wusch sie mir den Kopf, hob mich nachher aus der Wanne, trocknete mich ab und fönte meine Haare. Danach frisierte sie mich und verließ dann das Badezimmer, um für mich einen Tee zuzubereiten. Ich folgte ihr und setzte mich zu dem Eßtisch, wo mein Vater schon wartete. Anstatt mich aber mit Fragen zu bewerfen, wie Mutter es tat, starrte er mich nur an. Vielleicht wußte er nicht, was er sagen sollte.
"Ich war bei Nita." sagte ich.
Vater reagierte nicht. Doch bevor ich noch etwas sagen konnte, umarmte er mich und begann, zu weinen. "Es tut mir leid. Ich hätte mehr auf dich aufpassen sollen. Ich..." Er ließ mich los, als ich mich plötzlich auf den Eßtisch übergab. Mein Bauch drückte alles heraus.
"Was zum Teufel..." schrie mein Vater und stand ruckartig auf.
Es schmerzte unvorstellbar. Ich konnte kaum aufhören. Während ich den Kopf zu Boden senkte, rutschte ich auf den Boden in meine eigene Flüssigkeit und mein Körper zuckte. Muskelkrämpfe an meinen Beinen und Armen ließen mich laut schreien. Mutter kam auf mich zugerannt. "Mein Gott!" rief sie erschrocken. "Hol den Arzt!" schrie sie zu Vater. Er stürmte aus dem Haus, angetrieben von meinem Geschrei. Meine Beine hoben sich an, meine Arme verschlangen sich und die Schmerzen wurden unerträglich.
Mutter versuchte mich zu streicheln, aber durch meine Zuckungen wich ich ihr ständig aus.
Mein Schrei legte sich wieder und der Muskelkrampf stoppte. Still lag ich da. Das einzige, was ich bewegen konnte, waren meine Augen. Ich spürte die Hand meiner Mutter auf meiner frischgebadeten Haut, roch den Duft meiner Darmflüssigkeit, hörte meine Mutter, wie sie jemandem zuschrie, dass ich hier auf dem Boden läge. Dann wurde es dunkel und still.

Ein gleißendes, helles, weißes Licht. Eine Stimme. Ich konnte sie nicht verstehen. Ich schien zu schweben, fühlte nichts.
"Viktoria." Plötzlich verstand ich die Stimme.
"Nita." flüsterte ich, wobei es von allen Seiten ein Echo gab.
"Viktoria, hast du Schmerzen?"
"Ja. Obwohl, jetzt nicht."
"An die Schmerzen mußt du dich gewöhnen. Das gehört dazu."
Was meinte er?
"Zu was?" fragte ich.
"Das wirst du früher oder später noch herausbekommen."
Das Licht wurde schwächer.
"Auf Wiedersehen, Viktoria." sagte Nita und die Stimme wurde leiser, das Licht verschwand.

"NITA!" schrie ich und plötzlich saß ich aufrecht und schweißgebadet in meinem Bett.
"Beruhige dich, Viktoria. Du hast schlecht geträumt!" sagte Mutter, die neben mir auf einem Sessel saß, der normalerweise zum Eßtisch gehörte. "Kein Wunder bei 40 Grad Fieber." Sanft strich sie mir eine Strähne aus dem Gesicht. "Leg dich wieder hin. Der Doktor war schon hier. Seiner Meinung nach hast du nur eine vorübergehende Grippe. Aber die Muskelkrämpfe sind ihm ein Rätsel." Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und schneuzte sich.
"Nita hat was mit mir vor." stöhnte ich mit geschlossenen Augen.
"Vergiß Nita. Das ist nur eine Traumgestalt." Sie ließ ihr Taschentuch wieder verschwinden. "Du bist in den Wald gegangen, hast dich verirrt, bist ohnmächtig geworden und der Förster hat dich nach drei Tagen gefunden."
Der Doktor kam eine halbe Stunde zu spät. Er untersuchte mich, überprüfte meine Atmung, nahm eine Blutprobe, verschrieb mir eine Medizin und versprach, nächste Woche die Testergebnisse des Blutes zu haben.
Dann verließ er uns wieder. Nach sechs Tagen erfuhren wir durch die Zeitung, dass der Doktor auf seltsame Weise verschwunden war. In seinem Labor waren Kampfspuren zu erkennen.

"Tja, Viktoria. Scheint so, als wäre der Doktor an seinen Versuchen gescheitert!" kicherte Nita.
"Nita! Sag mir endlich, was du vorhast!" schrie ich, wobei es überall widerhallte.
"Bald, Schätzchen, bald."

Ich wachte schwer luftholend auf. Mein Herz pochte laut und mein Fieber machte mir unglaubliche Schmerzen. Ich versuchte trotz meiner unerklärlichen Krankheit weiterzuschlafen.
Das Fieber hielt unglaublich lange an. Dazu kam noch, dass ich mindestens zweimal täglich fünfzehnminütige Muskelkrämpfe am ganzen Leib verspüren mußte.
Inzwischen wurden zwei weitere Ärzte in unser Dorf geholt, um sich mich anzusehen. Beide wurden schon am nächsten Tag als vermißt gemeldet.
Eines Tages kam mein Vater zu mir ins Zimmer. In seinen Augen sah ich, dass auch er und wahrscheinlich meine Mutter ebenfalls in der Nacht kaum schliefen.
Er setzte sich zu mir ans Bett und sah mir ins Gesicht.
"Wie geht es dir?" fragte er nach einigen Augenblicken. "Nein, du brauchst nicht zu antworten."
Er seufzte. Seine Hand strich mir über die Stirn. "Wie hältst du sowas nur aus?"
"Ich spüre meinen Körper nicht." murmelte ich.
Vater hielt inne. Sein Blick wandte sich dem Licht zu, das aus dem Fenster in sein Gesicht schien. Dann sah er wieder zu mir.
"Viktoria, alle Ärzte, die dich untersucht haben, sind verschwunden. Trotz meines Willens, aber einen weiteren Arzt einzusetzen sehe ich als einen weiteren Verlust. Verstehst du das?"
"Ja." ließ ich kaum hörbar von mir.
Mein Vater verließ das Zimmer. Ich konnte keine klaren Gedanken mehr fassen. Mein Gehirn dampfte, mein Herz schien, als ob es stehen bleiben wollte. Meine Beine und meine Arme spürte ich nicht. Die Hitze unter den drei Decken, wirkte erdrückend. "Nita, hilf mir." flüsterte ich und verfiel dem Schlaf.
Nita erschien mir lange nicht mehr im Traum. Womöglich war er mit etwas anderem beschäftigt. Meine Krankheit - oder mein Virus - wurde nicht besser. Lediglich das Fieber sank auf 39 Grad.
Die Schule konnte ich nicht mehr besuchen. Manchmal sah einer meiner Lehrer vorbei und erzählte mir ein bisschen was von dem, was er gerade mit seinen Schülern in der Schule durchnahm. Aber nach einem Monat kam niemand mehr.
Von allen Tagen lag ich den ganzen Vormittag im Bett. Am Nachmittag bemühte ich mich immer, aufzustehen und ein bisschen was zu essen. Doch meistens packte mich sofort ein Krampf und ich brach zusammen. Meine Mutter half mir dann immer ins Bett und fütterte mich.
Abends las mir Mutter immer ein Buch vor. Manchmal aber kam auch mein Vater und erzählte mir von seinem Alltag auf dem Feld, wenn er nicht zu müde war. Ich mußte bei seinen Vorträgen sehr oft lachen, weil er alles mit Händen und Füßen darstellte.
Mein zehnter Geburtstag verlief in meinem Zimmer. Meine Verwandtschaft stand um mein Bett und überreichte mir Geschenke. Von meinem Onkel bekam ich ein Buch über Yoga, von meiner Großmutter und meinem Großvater bekam ich eine neue Matratze, von meiner Tante erhielt ich einen kleinen Fernseher und meine Eltern schenkten mir ein Tagebuch mit zehn neuen Bleistiften. Die Feier verlief kurz. Nach dem Kuchen meinte plötzlich jeder, er hätte noch was vor und verschwand.
Kurz bevor ich einschlief und hoffte, Nita zu treffen, erschien Mutter in der Tür.
"Ach, Viktoria, was sollen wir mit dir machen?" Sie ließ sich neben mir nieder. "Willst du in ein Krankenhaus?"
Ich schüttelte den Kopf, weil ich zu große Angst vor dem Risiko hatte, weitere Ärzte verschwinden zu lassen.
Mutter seufzte. "Ich bin müde. Lassen wir heute das Buch ausfallen?" fragte sie gähnend.
Ich nickte.
"Gute Nacht." Mutter drückte mir ein Küsschen auf die linke Wange, verließ das Zimmer und schloss die Tür.

"Viktoria!" Weißes Licht, leises Knurren.
"Wie lange soll ich noch so liegen, Nita?" fragte ich.
"Nicht mehr lange. Bald wirst du die ersten Veränderungen sehen."
"Nita, wo willst du hin?" Das Licht erlosch. "Vergiss mich nicht." flüsterte ich Nita hinterher.

Nach zwei Jahren verschwand mein Vater. Genau einen Tag, nachdem er sich mit einem Hospital in einer weit entfernten Stadt in Verbindung gesetzt hatte. Angeblich sollte ein Hubschrauber auf dem Flug zu mir sein, doch niemand kam.
Seit Mutter von Vaters Verschwinden erfahren hatte, weinte sie jeden Tag, wenn sie mir aus einem Buch vorlas.
Ich vermißte Vaters witzige Geschichten über die Arbeit, seine Stimme, seinen Geruch. Das Fieber schien eine Woche nach seinem Verschwinden wieder zu steigen, aber dann sank es auf 38.

"Die Metamorphose ist fast beendet, Viktoria. Nur noch ein paar Jährchen." Nita klang erheitert.
"Was hast du mit meinem Vater gemacht, Nita?" schrie ich. Der Hall war fürchterlich.
"Keine Angst, deinem Vater geht es gut." Nita räusperte sich.
Ich sah eine Weile in das Licht, das mir von Traum zu Traum besser gefiel.
"Nita, warum mußte ich wieder in das Dorf? Warum konnte ich nicht im Schloss bleiben und wie die anderen Kinder sofort erfahren, was passieren wird?" fragte ich mit ruhiger Stimme.
"Warum mußt du immer fragen stellen?" konterte Nita. "Sei nicht so ungeduldig."
Das Licht wurde wieder vom Dunkel verschluckt.

Ich erwachte wuterfüllt, stand auf, riss die Bettdecke von mir, schnappte nach dem Kopfkissen und schleuderte damit wild umher. Schreiend zeriss ich trotz furchtbarer Schmerzen den Überzug, knallte den Rest gegen mein kleines Nachtkästchen, das Kissen zeriss und Federn erfüllten den Raum. Meine Mutter stürmte in mein Zimmer schlang die Arme um mich, versuchte mich zu bändigen, wobei ich zu kreischen anfing. Mutter warf mich etwas grob auf mein Bett und über mich erging ein grauenvoller Muskelkrampf. Sie legte sich neben mich und streichelte mir über den Kopf. Wie ein Embryo lag ich da, zusammengezogen, wie ein kleines Paket. Meine Augen brannten, mein Kopf dröhnte.
Zwei Jahren nach diesem schrecklichen Ereignis sank meine überhöhte Temperatur auf normale Höhe ab. Meine Muskelkrämpfe reduzierten sich auf einmal pro Woche, bis sie schließlich komplett verschwanden.
Ich sah zum ersten Mal seit einem Jahr wieder aus dem Fenster. Das Dorf hatte sich total verändert. Womöglich waren wir gar kein Dorf mehr.
Ich atmete tief ein. Ich hörte Vögel zwitschern, der Wind rauschte durch Blätter und vom Marktplatz drangen laute Stimmen zu mir, die sich über Geschäfte unterhielten. Ich blickte auf den Himmel. Strahlendes blau und keine einzige Wolke. Mein Mund verzog sich zu einem Lächeln.
Plötzlich redete Nita zu mir, obwohl ich absolut munter war.
"Viktoria, die Metamorphose ist abgeschlossen." lachte er.
"Was passiert jetzt mit mir?" fragte ich und stieg von meinem Bett herunter.
Nita gab keinen Ton von sich.
"Nita!" schrie ich.
"Viktoria, mit wem redest du?" Meine Mutter stand auf einmal in der Tür.
"Mit niemandem. Ich würde mich gerne umziehen. Könntest du bitte mein Zimmer verlassen?" Ich sah sie mit einem strengen Blick an.
"Ja, aber beeil dich. Wir müssen noch auf den Markt." Mutter schloss die Tür hinter sich.
"Nita!" flüsterte ich. Er blieb stumm.
Hastig zog ich meine Jeans und ein Shirt an und verließ mein Zimmer.
"Da bist du ja endlich, Viktoria." lächelte mich meine Mutter an.
Ich ging an ihr vorbei in den Abstellraum, wo ich mir einen kleinen Rucksack nahm, ihn mit einem Seil, ein paar Haken, einem Hammer und etwas Proviant auffüllte. Wieder an Mutter vorbeigehend, zog ich meine Wanderstiefel an, die ich mir letzte Woche kaufte.
"Wo willst du hin?" fragte meine Mutter.
"Auf Wiedersehen, Mutter. Ich hole meinen Vater." sagte ich und verließ das Haus in Richtung Wald.
Mutter rannte mir nach und riss mich an der rechten Schulter zurück.
"Viktoria! Nein!" befahl sie.
"Mutter! Fünf schreckliche Jahre lang erlitt ich endlose Qualen. Mein Vater verschwand und Nita ist an allem Schuld. Ich besteige jetzt den Berg und werde mich an Nita rächen!"
Ich schlug ihren Arm zur Seite und marschierte auf den Wald zu, der am Fuße des gewaltigen Berges lag.
Mutter stand wie angewurzelt da und starrte mir nach.
Als ich im Wald ankam, war ich außer ihres Sichtkontaktes. Der Wald hatte sich nicht verändert. Das Licht war noch genauso fahl, wie vor fünf Jahren, der Boden war noch genauso mit Wurzeln übersät und die Luft war noch genauso erfrischend. Nach ein paar Minuten erreichte ich den Sumpf, in dem mich Nita abgesetzt hatte. Frösche saßen quakend umher und hohes Schilf ragte aus dem Schlamm. Meine Stiefel versanken etwas im Morast, doch das hielt mich kaum auf.
Der Berg kam immer näher und auf einmal stand ich ihm direkt gegenüber. Kalt, voller Moos und feucht. Wieviel Jahre mochte er wohl hier schon gestanden haben?
Ich nahm einen Bündel Haken aus meinem Rucksack, steckte ihn mir in meine rechte Hosentasche und hämmerte den ersten Haken in das Gestein vor mir. Ich sicherte mich mit dem Seil, das ich an meinem Gürtel befestigte und in den Haken einfädelte. Dann stieg ich langsam, aber sicher auf.
"Nita, ich komme!" knurrte ich, während ich bereits vier Meter auf den Boden niedersehen konnte. Einmal wäre ich fast abgerutscht, konnte mich aber gerade noch mit meinen Händen am Seil halten.
Nach einer halben Stunde kam ich schweißgebadet am Gipfel an. Meine Beine schmerzten etwas und mein Kopf schien zu vibrieren. Der Wind war wahnsinnig stark hier oben. Ich drehte mich um und sah auf das kleine Dorf hinunter. Nach einem Seufzer drehte ich mich dem Schloss zu, dass sich ein paar Meter von mir entfernt befestigte.
"Viktoria, was machst du hier?" fragte mich Nita.
"Ich werde dich töten!" schrie ich.
Plötzlich war es um mich herum dunkel und leise.
"Sieh dich in den Spiegel, Viktoria. Du hast dich verwandelt." Nita knurrte leise.
Vor mir erschien untermalt von einem glitzernden, gelben Staub ein mit Gold verzierter Spiegel. Ich sah mich an und konnte es nicht fassen. Mein Gesicht war komplett verändert. Die Stirn war vorgewölbt, die Wangenknochen nach unten verschoben. Die Augen waren blutrot und sahen aus, als ob sie jeden Moment herausquellen könnten. Meine Haare verschwommen in einem düsteren Schwarz.
"Gefällst du dir?" lachte Nita herzlich. "Mach den Mund auf."
Ich befolgte seine Anweisungen und erkannte voller Schrecken, dass die Eckzähne sich zu gewaltigen Dolchen ausgebildet hatten. Als ich mir mit den Fingern die Zähne anfühlen wollte, erschrak ich abermals. Die Finger waren zu dünnen Knöchelchen geworden mit langen gelblichen Fingernägeln.
"Du bist jetzt ein übermenschliches Wesen, Viktoria. Frei von den menschlichen Gesetzen und Fehlern. Du bist ein Geschöpf des Todes." sagte Nita in einem grauenhaft tiefen Ton.
"Du hast aus mir einen Vampir gemacht!" kreischte ich und zerkratzte mit meinen Fingernägeln den Spiegel.
"Das muß in der Familie liegen." sagte Nita, während sich der Spiegel teilte und mein Vater zum Vorschein kam. Er hatte die selbe Verwandlung durchgemacht, wie ich. Die Spiegelüberreste lösten sich in gelben Staub auf und mein Vater stürzte zu Boden.
"Vater!" Schneller, als das menschliche Auge es hätte bemerken können, war ich bei ihm und half ihm auf. Er sah mich an.
"Viktoria, mein Kind. Vergiss mich nicht." Er stöhnte und schloss seine Augen. Erst jetzt fiel mir das Blut auf, das aus seinem Herz floss.
"Du Schwein!" schrie ich. "Zeig dich endlich! Bist du zu feige, um dich deinen Opfern gegenüber zu stellen?"
Mein toter Vater glitt mir aus den Händen und fiel zu Boden. Plötzlich hörte ich eine laute Explosion, in meinem Kopf drehte sich plötzlich alles. Mein Körper ließ sich auf die Erde fallen.
"Nun, Viktoria, hier bin ich." sagte Nita. Seine Stimme klang anders, als in den Träumen.
Ich öffnete meine Augen und zuckte zusammen. Nita sah schrecklicher aus, als ich. Aus der Stirnwölbung traten dicke Hörner aus, die von seinen langen schwarzen Haaren, die ihm bis zur Schulter hingen, etwas verdeckt wurden. Neben den oberen Eckzähnen, waren auch von unten mächtige Spieße gewachsen. Durch sein böses Lächeln erschienen die Vampirzähne besonders groß. Die Augen waren nicht rot, sondern leuchtend grün. Seine Finger ragten so lang wie seine Unterarme aus den Händchen. Sein schwarzer Umhang wehte in dem kühlen Wind, der durch das Schloss fegte. Hinter ihm lagen Dutzende Särge, die wahrscheinlich Vampire beinhalteten.
Licht wurde durch Kerzen erzeugt, die in regelmäßigen Abständen an den tropfenden Wänden mit Eisenstäben angebracht worden waren. Fenster gab es keine. Der einzige Ausweg bestand aus einer schweren Holztür hinter mir und am Ende des Raumes in ungefähr 100 Metern. Ratten wanderten piepsend umher und hüpften auf den Särgen herum.
"Willkommen in meinem Reich." Nita streckte seine Arme aus und drehte sich einmal um sich selbst.
"Ich dachte, die Sage mit den Vampiren sei gelogen." knirschte ich durch die großen, gewöhnungsbedürftigen Zähne.
"Ist sie auch. Die Sage lautet: 'Vor 7000 Jahren wurden Vampire dafür verantwortlich gemacht, dass...'"
"'...dass die damaligen Besitzer des Schlosses ebenfalls zu diesen widerwärtigen Blutsaugern geworden sind und sich in den Kellern niederließen.' Ich weiß!" setzte ich seinen Satz fort.
Nita lächelte mich schief an. Doch dann verschwand sein Lächeln hinter einer ernsthaften Visage.
"Doch die Sage ist falsch, denn die damaligen Besitzer - mit anderen Worten: ich - waren schon Vampire!" Nita begann, herzhaft zu lachen.
"Ich bringe dich um!" Mit einem lauten Schrei rammte ich meinen Körper mit mehreren Stundenkilometern in Nita's Leib. Wir krachten auf einen Sarg, der knarzend zusammenbrach und große Holzpflöcke in die Luft wirbelte. Wie eine Verrückte schlug ich mehrmals pro Sekunde auf Nita ein. Diesem schien sein Lachen nicht zu vergehen. Als ich zu spät bemerkte, dass die Schläge keine Wirkung zeigten, ergriff mich Nita am Hals und hob mich hoch. Ein gewaltiger Schlag mit dem Fuß ließ mich auf die Holztür aufprallen. Nita stand plötzlich vor mir.
"Was ist los, Viktoria? Ich dachte, du willst Rache?" Sein Lachen wurde unerträglich.
Blitzschnell rannte ich über die feuchte Wand auf die Decke, ließ mich hinter Nita fallen und stieß ihm von hinten meine Hände quer durch seinen Brustkorb. Dunkelrotes zähes Blut spritzte auf den Boden.
Nita stieß einen unkontrollierten Schrei aus. Er packte mich rückwärts mit den Händen, schleuderte mich an die Decke, wobei es furchtbar viel Staub aufwirbelte, und kratzte mir horizontal übers Gesicht. Dann fiel ich wie ein tonnenschwerer Stein zu Boden. Ohne zu Zögern schnappte ich nach einem Holzsplitter, richtete mich auf, drehte mich schneller, als ein Wirbelwind und durchbohrte Nita's Herz. Er spuckte Blut, hielt mit beiden Händen den Splitter in seinem Herz, zog ihn heraus und warf in zur Seite. Stolpernd ging Nita auf mich zu.
Ich schlug ihm mit meinem Fuß auf den Kopf, wobei er zusammenbrach.
"Eine Frage noch, Nita." sagte ich und riss Nita bei den Haaren. "Warum hat meine Verwandlung länger gedauert, als bei Vater?"
"Er war bei mir, und du warst sehr weit entfernt." stöhnte Nita. "Die Verwandlung findet durch meine Ausstrahlung statt."
Plötzlich landeten seine Hände auf meinem Kopf. Ich fiel zurück.
"Du kannst mich nicht töten, Viktoria!" schrie Nita, der auf einmal wieder auf den Beinen stand. Seine Wunden am Herz und am Brustkorb schienen wieder zusammengewachsen zu sein.
Die Flammen der Kerzen bewegten sich. Die Deckel der Särge schoben sich zur Seite. Aus ihnen stiegen langsam weitere Ungetüme, die sich sofort auf mich zu bewegten.
"Es ist aus, Viktoria. Du sitzt in der Falle." Wieder lachte Nita.
Ich fasste zu der Türklinke von der Tür, aus der ich in diesen Raum gekommen war. Abgeschlossen.
Ich drehte mich um und sah mehreren Vampiren in die blutrünstigen Augen. Mit meinem rechten Arm holte ich weit aus, und zerschlug mit ganzer Kraft die Holztür. Sie zerfiel in Metallstäbe und morsches Holz. Ein langer Korridor erstreckte sich vor mir. Ohne auch nur einmal zurückzusehen, lief ich los. Hinter mir hörte ich die Schritte der anderen Vampire.
Der Korridor endete an einer Metalltür, die sich durch meine Arme nicht brechen ließ. Der Korridor hatte keine Fenster in den Wänden oder Falltüren am Boden. Mit aller Kraft zog ich an der Tür. Doch sie bewegte sich nicht einmal einen Millimeter. Die Vampire ergriffen mich mit Händen und Gebissen, zerkratzten mich am ganzen Körper. Nita drängte die Meute dazu, aufzuhören. Ich lag am Boden und fühlte nur noch meine Leiden. Nita kam auf mich zu, hielt mich fest und sah mir in die Augen. Plötzlich drang sein rechter Arm in mein Herz ein. Ein komisches Knacksen war zu hören, dann spürte ich, wie warmes Blut aus mir herausfloss und sich unter meinem Rücken ausbreitete. Meine Lungen füllten sich mit derselben warmen Flüssigkeit, und ich konnte nicht mehr atmen. Mein durchtrenntes Herz hörte auf zu zucken. Der Blutstrom unterbrach und mir wurde etwas schwarz vor meinen Augen. Nita zog leicht seine Hand aus meinem Herz.
Ich schwebte förmlich. Mein Körper fühlte sich leicht an. Ich flog in einer Dunkelheit umher ohne Ziel. Vor mir tat sich ein weißes, grelles Licht auf.
"Keine Angst, Viktoria. Das hört bald wieder auf." hörte ich Nita sagen.
Ich öffnete meine Augen und sah ihn vor mir. Noch immer lag ich in meinem Blut vor der Metalltür, umgeben von Vampiren. Mein Herz pochte wieder.
"Was ist passiert?" brachte ich kaum hervor.
"Ich habe dir demonstriert, wie es sich angefühlt hat, als du mir vorhin den Holzsplitter durch mein Herz gestochen hattest." lachte Nita.
Ich gab ihm eine Ohrfeige, worauf er nur noch mehr lachte.
Die Vampire halfen mir auf die Beine, öffneten mit einem Schlüssel die Metalltür, ließen sie zur Seite quietschen und führten mich zum Festsaal.
"Ich bin tot!" stellte ich plötzlich fest.
"Nein, Viktoria. Vampire sind unsterblich. Selbst, wenn ihnen das Herz durchbohrt wird, ihnen etwas abgetrennt wird, oder wenn sie Knoblauch riechen." korrigierte mich Nita.
"Und wieso starb mein Vater in meinen Händen?" schrie ich ihn an.
Nita blieb stehen und sah mich an. "Dein Vater war ein mißlungenes Exemplar, weil sich einer meiner Kollegen einen Spaß erlaubte, als er Vater für die Metamorphose vorbereitete. Wäre er nicht gestorben, hätte er sein ganzes Leben lang Qualen erlitten!" schrie Nita zurück.
Wir erreichten den Festsaal. Wieder hatte dieser Raum keine Fenster. Hunderte kleine Kerzen standen an den Wänden. In der Mitte schlummerte ein langer rechteckiger Tisch, bedeckt mit feinstem Kristallgeschirr, weißem Tischtuch und bläulichen Servietten.
"Nehmt Platz, meine Freunde." rief Nita.
Die Vampirschar nahm Platz. Nita setzte sich an den Tischkopf und zerrte mich an einen Sessel neben sich.
Das Essen wurde serviert. Es gab reichlich Fleisch, Salat, Suppen, Unmengen an Saucen und viel Wein. Es wurde gelacht, gesungen und getrunken. Nachdem Nita eine kleine Ansprache über mich gehalten hatte und sich wieder auf seinen Stuhl niederließ, wandte er sich an mich. "Wie gefällt es dir hier?"
Ich antwortete nicht auf seine Frage.
"Wir sind keine Vampire. Wäre ich ein Vampir, wäre ich tot!" Ich griff an mein Herz.
Nita kicherte. "Du bist intelligent." Er langte nach seinem Weinglas und nahm einen Schluck. "Wären wir nämlich Vampire, müßten wir jeden Tag das Dorf befallen, um Menschenblut zu ergattern."
"Also, was sind wir wirklich?" Ich hatte die Geheimnistuerei von Nita satt.
"Eine neue Rasse." antwortete Nita.
"Hat unsere Rasse auch einen Namen?" fragte ich.
Nita lachte wieder. "Namen sind was für Menschen. Sie brauchen für alles Neue einen Namen, damit sie es nachher wieder erkennen."
"Soweit ich das mitbekommen habe, hat unsere Rasse keinen Sinn." bemerkte ich.
Nita hielt inne. Vielleicht war er überrascht. Er stellte mit einem nachdenklichen Gesicht sein Glas auf den Tisch.
"Wir sind Geheimwaffen der Natur." sagte Nita plötzlich.
"Wie bitte?" rief ich erstaunt. "Wie soll ich das verstehen?"
"Die Menschheit zerstört die Natur seit sie denken kann. Von Tag zu Tag steigt die Luftverschmutzung an, die Wälder werden immer mehr gerodet, die Fischvorräte in den Weltmeeren werden ausgerottet und viele Tierarten werden aus der Geschichte gelöscht. Wenn sich der Mensch nicht eines Tages selbst zerstört, werden wir eingreifen. Weltweit gibt es ungefähr sechs Millionen Exemplare unserer Rasse. Wir wohnen in den hintersten Ecken der Erde. Ungesehen, versteckt und wartend." erzählte Nita.
"Warten auf was?"
"Auf das Signal der Natur. Wenn ihr alles zuviel wird, gibt sie uns ein Signal zur Zerstörung der Menschheit."
Ich warf meinen Blick auf die anderen Gestalten, die beim Tisch saßen. Sie aßen, redeten und lachten wie Menschen. Der einzige Unterschied zwischen Mensch und dieser Rasse bestand im Aussehen und in der körperlichen Kraft.
"Komm mit." Nita fasste mich an der Hand und zog mich aus dem Festsaal. Wir wanderten im Schloss umher, bis wir zu einer Stiege kamen, die sich in einem Bogen um sich selbst nach oben schlängelte. Die Stiege war aus altem Gestein. Wer weiß, wie lange dieses Schloss schon auf diesem Berg gestanden haben muß.
"Beeil dich." Nita und ich stiegen die Stufen hinauf. Es waren ungefähr siebzig, als wir endlich oben ankamen. Die Stiegen führten auf eine Aussichtsplattform eines hohen Turmes, von der man einen wunderschönen Ausblick hatte.
Es war bereits dunkel. Die Sterne und der Mond erhellten die Aussicht etwas. Die kleinen Lichter des Dorfes stachen aus der Dunkelheit heraus, als ob sie Lücken hätte. Am Horizont ragten hohe Berge aus dem Boden. Bis dorthin war alles Wald.
Nita lehnte sich an die Mauer und genoss den Ausblick.
"Wenn mir langweilig ist, komme ich hier herauf um mich von dem Anblick der Welt motivieren zu lassen." sagte Nita.
"Motivation für was?" fragte ich.
"Für das Warten. Warten auf eine Nachricht der Natur." Nita seufzte.
Ich starrte auf das Dorf hinunter. Die Lichter hielten meinen Blick im Bann. Meine Mutter kam mir in den Sinn und der Gedanke, dass ich sie niemals wieder sehen würde.
"Auf Wiedersehen, Mutter." flüsterte ich.