Knochenträger

Sie waren die wohl gefürchtetste Armee des Landes. Die Armee, die immer dann auftauchte, wenn man es am meisten erwartete, und die man trotz dieses Vorteils nicht bezwingen konnte.
Womöglich, weil man sich erzählte, diese Armeen würden Signale in die Luft feuern, auf dass nach einer kurzen Zeit gewaltige Knochenbestien erscheinen und ganze Heere einfach so verschlucken würden.
Wahrscheinlich aber auch, weil sie schon bezwungen war und nur auf Erden im wahrsten Sinne des Wortes noch herumgeisterte, um die Ewigkeit tot zu schlagen.
Und Menschen.
Die Armee der toten Lebenden war bis an die Zähne (sofern die einzelnen Skelettkrieger noch welche besaßen) bewaffnet. Jede linke knochige Hand hielt ein mächtiges Schwert, das den grauen Wolkenhimmel widerspiegelte. Jede rechte umklammerte einen Morgenstern von der Größe eines Brustkorbes. Die Rüstungen bestanden lediglich aus Helmen, die aus billigem mattem Metall geschmiedet waren, und braunen Lederharnischen.
Das einzig besondere an den Skelettkämpfern bestand aus dem Prinzip, dass sie immer wieder kommen würden, sollten sie auch einen noch so heftigen Schlag einstecken.
Das Schlachtfeld, auf dem gerade die knochigen Kämpfer in Richtung Westen stürmten, war nichts weiter als eine junge Steinwüste, umgrenzt von kilometerhohen massiven Berggiganten, die wie riesige Götter auf ihr Spiel herabsahen.
Im Westen wuselte die menschliche Armee. Sie war vorbereitet auf die skelettarische Armee, starrte auf den Horizont, der bereits eine hohe Staubschicht aufwies. Die Erde unter den menschlichen Sandalen begann bereits leicht zu zittern.
Es waren mehrere Tausend humane Gebilde, die sich über kleinere Hügel quer über das göttliche Spielbrett erstreckten, angeführt von fünf, sechs Generälen. Die menschliche Rüstung war bei weitem nicht so spärlich, wie die der toten Kontrahenten. Das Material war feinstes Mythril, das trotz des kargen Lichteinfalls der unterdrückten Sonne glitzerte, als wäre die Sonne zerteilt worden und die einzelnen Stücke in die Rüstungen miteingearbeitet. Ihre Helme glichen kaum mehr der allgemeinen Vorstellung eines ritterlichen Kopfschutzes. Eher könnte man meinen, mehrere Untiere hätten jedem einzeln auf den Kopf gebissen, den Rumpf verloren und wären dabei zu Stahl erstarrt.
Ihre Bewaffnung bestand aus schweren fein geschliffenen Schwertern und groben Schildern, die ihr Symbol zierte.
In regelmäßigen Abständen ragten Fahnenmaste mit einem verziertem Stück Stoff aus der Armee. Wahrscheinlich kämpften sie hier für ihr Land, das mehrere Jahre Reise zurücklag.
Per Funk unterhielten sich die protzigen Generäle auf ihren überdimensionierten schwarzen Pferden über die - für sie natürlich nicht - aussichtslose Lage. Die Soldaten wurden von Sekunde zu Sekunde nervöser, einigen rann bereits der Schweiß unter den schweren Untierhelmen über die Hälse in ihre Mythrilrüstungen. Manche zitterten bereits leicht und erzeugten dadurch klirrende Laute mit ihren Schwertern, die den Boden streiften.
Dann die erlösende - oder eher noch mehr anspannende - Signalfackel. Einer der Generäle hatte die ersten bewegten Anzeichen ihrer Gegner am Horizont gesichtet und über ihm zerriss das Geschoss seiner Leuchtpistole in ein schadenfrohes Feuerwerk.
Die Toten kamen näher und ließen die Erde vor Freude beben.
Die Generäle gaben perfekt im gleichen Moment das Signal zum Angriff und das menschliche Gewächs setzte sich fort, wenn auch ungleich langsamer als die heranstürmenden Kreaturen.
Und dann, kaum zehn Sekunden später, prallten die zwei ungleichen Partner ächzend aufeinander. Die Berge schienen zu applaudieren und steuerten Geröll bei, das die ersten Opfer forderte.
Und eine knappe halbe Sekunde später folgten weitere.
Die Skelette schlugen auf die menschlichen Konserven ein, als wären sie Stoffpuppen, die man zerschlagen musste, um sie zum schreien zu bringen. Die Menschen wehrten sich; versuchten es zumindest.
Die Toten suchten nach Artgenossen. Schwerte prallten aufeinander oder gegen Schild, Morgensterne zertrümmerten Helme, bohrten sich sogar wie Butter durch die Mythrilrüstungen! Die Menschen schrien, die Skelette gaben - wenn überhaupt - nur ein leises Zischen von sich. Die Erde grölte, der Himmel war entzückt und ließ es freudig auf die Ansammlung unter ihm niederprasseln.
Der Regen ließ die toten Kämpfer noch düsterer aussehen, die Menschen noch gequälter. Man könnte meinen, das Naß wäre für die Skelette wie Öl für Scharniere. Sie bewegten sich noch schneller, noch geschmeidiger und mit einer faszinierenden Präzision.
Miger war einer der skelettarischen Armee. Sein Konto wies bereits gut einhundert Opfer auf und er dachte noch nicht einmal an Erschöpfung. Immerhin waren gerade mal fünf Sekunden vergangen seit dem Aufprall der beiden Welten.
Er war froh darüber, dass sein Gesicht keine Mimik mehr aufweisen konnte, denn es wäre so verzerrt gewesen, dass selbst er schon ohne Spiegel darüber gelacht hätte.
Sein Schwert und sein Morgenstern durchbrachen die lebendigen Körper, als wären sie gar nicht vorhanden. Manchmal erwischte er jemanden mit beiden Waffen gleichzeitig und es hätte ihm das Herz gebrochen bei dem Anblick - hätte er ein solches Organ besessen.
So konnte er es sogar genießen. Seine Seele steuerte die leblosen Gebeine wie ein äußerst begabter Puppenspieler durch die gegnerische Mannschaft.
Plötzlich durchfuhr den Boden ein Donnerschlag.
Miger hatte gar nicht bemerkt, dass die Generäle noch auf ihren Startpunkten geruht hatten. Nun waren sie gleichzeitig losgeprescht, erhoben die Schwerter, ließen ihre Schilde fallen und wurden sogleich noch rasender. Nicht nur, weil sie nun etwas leichter waren, sondern auch wütender darüber, dass man ihre menschlichen Soldaten bereits dermaßen dezimiert hatte.
So schnell er im Gefecht reagieren konnte, so leicht übersah Miger, was auf ihn in den nächsten zwei Sekunden zukam.
Einer der Generäle, dessen Abzeichen wie wuchtiger Tang von seinem protzigen Rüstgewand hingen und mit dem Takt des Pferdes baumelten, steuerte direkt - oder einfach nur durch schadenfrohen Zufall - auf Miger zu und riß sein Schwert aus der Tiefe quer durch Miger.
Er zerfiel knallend und krachend in einen Haufen Knochen und Metall. Das einzige, das nicht zerschnitten war, war sein ewig grinsender Schädel mit dem billigen Helm.
Die Generäle zogen ihre Spuren durch die tote zischende Armee, gefolgt von ihren laut brüllenden Männern, die zwar Totenangst ausstehen mussten, aber auch genauso mutig, wie bleich im Gesicht waren (hätte man die Gesichter gesehen).
Es dauerte nicht mehr lange und das Toben fand ein Ende. Gewaltige Leichenberge zierten die sonst so kahle Landschaft, der Boden fand wieder Ruhe, die Berge zogen sich wieder in ihren Schlaf zurück und die am "Leben" gebliebenen Skelettkrieger gingen als Sieger hervor - und begannen laut zu jubeln.
Sie lachten, gratulierten sich mit herzhaften Handschlägen gegenseitig und manche wären wahrscheinlich in Tränen ausgebrochen - würden ihnen nicht Augen und Tränendrüsen fehlen.
Miger schwebte in einem Zustand zwischen Nichts und Sein und sah stumm auf seine Gebeine herab. Er wollte um Hilfe schreien, doch er bezweifelte, dass ihn jemand hören würde. Er hatte schon aufgehört zu glauben, dass jemand käme, um sich um ihn zu kümmern, als sich endlich ein Skelett auf ihn zu bewegte.
Nadirck, Migers bester Freund in der skelettarischen Armee, beugte sich zu ihm hinunter und fing an amüsiert zu lachen (natürlich in der immergleichen grinsenden Mimik).
"Na, dich haben sie aber erwischt! Willst dich wohl wieder begraben lassen, hm?"
Miger fand das etwas weniger lustig - und sein Schädel mußte trotzdem gemeinerweise grinsen.
"Lass den Quatsch und hilf mir zu der Anlage zu kommen." wollte Miger in einem gequältem Ton von sich geben, doch Nadirck war eine Welt zu weit entfernt, um ihn hören zu können. "Ich will heute Abend noch mein Ungeschick meiner Familie beim Essen berichten."
Nadirck stoppte sein sowieso mehr gespieltes Lachen, als hätte er die Worte von Miger doch vernehmen können, und schaufelte ihn in eine Glaskiste, auf der mit roter Spraydose irgendwann einmal ein großes "Loser" aufgesprüht worden war. Um dem ganzen Spott noch eins draufzusetzen, trug Nadirck den eingesperrten Migerhaufen auf dem Kopf, damit ihn ja alle sahen und was zu lachen oder - zu grinsen hatten.
Natürlich war Miger nicht der einzige Verwundete - oder wie man das auch nennen wollte (sie trugen ja keinen Schmerz davon).

Die tote Armee reiste ein paar Stunden, als sie endlich wieder in ihrer Heimat eintraf, ein kleines von Hügeln umzäuntes Dorf. Die Landschaft war schwarz und teilweise etwas grau. Es roch nach Schwefel, Asche und Tod.
Doch die Skelette konnten sowieso nicht riechen. Sonst wären sie vermutlich noch toter.
Die Krieger wurden herzlichst empfangen von den weiblichen Skeletten und den kleineren Gebeinen. Der Häuptling (er trug wie immer seine Urnensammlung um seinen Hals und sein gepolsterter Mantel ließ in dick und groß erscheinen) grinste ihnen ebenfalls entgegen (wie sollte er auch anders) und hieß die Kämpfer herzlichst Willkommen.
Es wurde nicht lange diskutiert - man brachte die Glaskisten sofort zu der Anlage. Die, die verschont worden sind von den menschlichen Angreifern, kehrten sofort zu ihren Familien zurück und ließen sich kleine Schrammen wieder ausmeisseln oder zukitten.
Hara, die Frau von Miger, nahm Nardirck ihren eingekisteten Ehemann ab und hängte sich an die Menge an, die sich in Richtung der Anlage schlängelte.
Die Anlage war in einer Höhle aufgebaut worden und sah nicht so spektakulär aus, wie es die Fähigkeiten waren, für die man sie konstruiert hatte. Zu jeder Himmelsrichtung erstreckten sich röhrenartige grün leuchtende Gebilde zur Wand und trafen sich in der Mitte in einer Art Kanister, der auf einem knochigen Kasten stand, in dem eine kleine Öffnung vorhanden war.
Der erste Verwundete kam an die Reihe. Eine Art Schamanenskelett wartete neben der Anlage und die Ehefrau des Verwundeten öffnete die Loser-Glaskiste und schob behutsam den Ehemannknochenhaufen in die vom Schamanen geöffnete Luke.
Die Anlage erwachte zum Leben. Die grünen Säulen begannen zu pulsieren. Ein gewaltiges Summen ertönte aus der Mitte der Anlage und wurde von den Höhlenwänden mehrmals reflektiert. Der Schamane drehte mehrere Kreise um die Anlage und zischte mächtige Laute, die aber keiner außer ihm zu verstehen schien.
Plötzlich erzitterte die Anlage kurz, ein ohrenbetäubender Knall ( wie gut, dass niemand in diesem Raum ein Ohr besaß ) durchfuhr nicht nur die Luft, sondern auch alle Knochen und aus der Luke stieg Rauch aus, der sich nicht wie gewöhnlicher Rauch bewegte, sondern eher wie ein Schleier in der Schwerelosigkeit.
Und heraus trat der zusammengeschraubte Knochenhaufen, der sofort von seiner Geliebten umarmt und nach Hause geführt wurde.
Dann begann die Prozedur von neuem.
Nach ungefähr vierzehn Durchführungen wurde auch Miger endlich wiederhergestellt. Und auch er wurde von seiner Frau umschlungen und in seine Hütte geleitet.
"Es wartet bereits dein Essen auf dich, Miger." sagte Hara liebevoll in Migers Ohröffnungen.
"Ich freue mich schon auf die Nachspeise." raunte Miger zurück und zwinkerte mit seinem nichtvorhandenen Augenlid.
Sie traten in das Haus, das eher an eine knochige Kirche erinnerte, als an ein wohliges Zuhause und Miger blieb angenehm überrascht kurz stehen.
Das Essen war in der Tat schon angerichtet, und es war nicht nur Essen, sondern ein Festmahl!
Es gab Seelensuppe. Die Götterspeise der Toten. Für das menschliche Auge war es nur ein grüner Rauch, der in dem Teller kroch. Aber Miger, Hara, dessen Sohn Argian und selbst die kleine Mavun würden dafür ihre Seele geben (Ironie?).
Das Eßzimmer war düster eingerichtet. Mehrere satanistische Malereien hingen übertrieben eingerahmt auf den Knochenwänden, hier und da schmückte ein Blutspritzer (erste Malversuche der Kinder) die - im wahrsten Sinne des Wortes - leblose Wand und es hätten Vorhänge vor den Fenstern gehangen, wäre vor einigen Jahren nicht eine ständige Bewölkung über dem Dorf prophezeit worden.
Die Familie fing ohne ein unchristliches Gebet sofort an, die Seelen wie Spaghetti mit ihren knochigen Fingern aufzudrehen und mittels gedanklicher Anstrengung in die ihren zu saugen.
"Darf ich nach dem Essen am Dorffest teilnehmen Vater?" frage Argian und zappelte vorfreudig herum und hätte beinahe eine kostbare Seele an den Boden verloren.
"Du bist zwar noch nicht kantig genug und bei weitem noch nicht ausreichend groß," sagte Vater in einem ernsten Ton und plötzlich schlug eine Freude die Ernsthaftigkeit aus seiner Stimme und er fuhr fort: "Aber wir waren alle einmal so wie du, also warum solltest du nicht?"
"Ich bitte dich Miger! Bei so einem Fest wird Blut der Gegner getrunken! Er soll mit seinen achthunderfünfundfünzig Jahren noch nicht sturzbesoffen nach Hause kommen - sollte er den Weg dann noch finden!" lenkte die vernünftige Stimme Haras ein.
"Ach was, Blut schmeckt mir nicht. Ehrlich!" schwor Argian.
Mavun kaute auf ihrer Seele herum und richtete ihre leeren Augenhöhlen auf ihr Haustier. Das Katzenskelett war gerade dabei, sich mit einer nicht vorhandenen Zunge zu putzen.
"Hast du dich nicht auch als kleines Gebeinchen auf so ein Fest gefreut? Endlich unter Erwachsenen, unter Kriegern! Endlich den Sieg gemeinsam feiern!" Miger versuchte mit aller Kraft überzeugend zu klingen. Hara wußte, dass dieses Mal das Grinsen auf seinem Knochenschädel purer Scherz der Natur war - in Wirklichkeit hätte er wahrscheinlich eine ernste Miene getragen.
Hara seufzte (und es hinterfragte niemand, woher eigentlich die Stimmen kamen, da ja keine Stimmbänder und Lungen existierten) - und stimmte mit einem kurzen, grinsenden Nicken zu.
Argian wäre vermutlich aufgesprungen, auf der Decke zerbröselt und in der Anlage wieder zu sich gekommen - hätten ihm die Seelen nicht dermaßen gemundet. Er blieb geduldig und aß mit seiner Familie zu Ende.
Nach dem Essen marschierten Mavun und Hara in so eine Art Wohnzimmer, wo sie mit den endgültig verstorbenen Verwandten im Jenseits per Meditation plauderten und vom Sieg berichteten. Miger und Argian bereiteten sich auf das Fest vor.
"Also, mein Sohngebein," sagte er durch sein beinahe schon schwarzes Kiefer und Argian stellte fest, wie vergilbt auch die restlichen Knochen seines Vaters schon waren. Miger und Argian standen sich gegenüber und Argian erschien fast so groß wie sein Vater. "Ich denke, das ist das erste Mal, dass du ausgehst, was trinken wirst und vielleicht sogar betrunken mit mir nach Hause gehst und dabei Klagelieder grölst. Am nächsten Tag wirst du eventuell Knochenschmerzen haben, und..."
"Vater," unterbrach ihn Argian. "Gehen wir endlich? Die menschlichen Leichen brennen bereits."
Miger konnte gar nichts mehr sagen, weil Argian schon verschwunden war und mußte sich damit abfinden, hinter ihm herzulaufen und ihm noch hinterherzurufen, dass er vorsichtig sein solle.
Argian stürmte aus dem Haus und blieb mit positiver Überraschung stehen.
Es glich einem Totentanz, einer wilden Maskerade, einem menschlichen Albtraum und - den endlich erfüllten Wünschen von Argian.
Die ausgelassenen Skelettkrieger tanzten wild um das Leichenfeuer, warfen manchmal wieder neue menschliche Leichenteile (nachdem sie ausgepresst wurden, um für Getränke zu sorgen) in die Flammen und begossen sich mit dem Lebenselixier ihrer Gegner. Irgendwoher tönten abartige wilde Melodien, die Argian nur zu gut kannte, da er sie all die Jahre immer nur aus seinem Zimmer aus hören konnte und auch musste. Die Skelette sangen dazu, schrien dabei aber mehr, als dass sie versuchten die Töne zu treffen. Einige hatten ihre Waffen bei sich und an mehreren Ecken wurden Wettkämpfe abgehalten und der Verlierer fand sich in der Anlage wieder, nur um gleich daraufhin wieder anzutreten und mehr Blut zu trinken.
Natürlich waren nicht nur männliche Skelette anwesend. Ehefrauen tanzten ausgelassen durch die Gegend und taten, als wären sie nie verheiratet gewesen (was niemanden wirklich störte, da auch die Natur einmal "Gassi" gehen musste).
Und wieder ertönte das laute Knacken eines Glaskistenlosers, dann setzte plötzlich jemand mit einer Art Trommel zu der lauten Melodie ein, und die Szenerie schien beinahe, als würde das reine Chaos herrschen.
Argian zögerte keine Sekunde und warf sich in den Strudel aus Tod und Fröhlichkeit. Er ließ seine Knochen gegen andere stoßen (ein traditioneller "Knochenschläger"; einer seiner Lieblingstänze, die er vom Zusehen gelernt hatte), warf Leichenteile in die Flammen, vergaß alles um sich, legte sich selbst in die Wellen der Melodien und - trank sein erstes Glas dickflüssiges Generalenblut.
Für kurze Zeit hatte seine Ausgelassenheit einen Aussetzer. Sein nicht existierendes Herz überschlug sich selbst dreißig Mal, und wäre ein Magen unterhalb seines Brustkorbes vorhanden gewesen, hätte dieser rebellierend alles wieder durch den Mund ausspeien lassen.
Doch so musste es seine Seele akzeptieren, sog alles in sich auf und Argian fühlte sich plötzlich ... ja, lebendig. Beinahe menschlich. Und es war ihm keinesfalls unvertraut. Er hatte sich nie die Frage gestellt, doch jetzt kam sie, als wäre sie nur vor der Tür gestanden und er war immer zu blind, um dahinter nachzusehen:
War er eigentlich einmal ein Mensch gewesen?
Er kam nicht weiter mit seinem Gedanken, denn eine lange tänzelnde Skelettreihe riss ihn einfach jubelnd mit sich. Sie umrundeten das gewaltige Lagerfeuer, das mindestens sieben Skelettlängen übereinander ausmachte, und schloß sich zu einem einzelnen Kreis. Gerade, als Argian in die Flammen starrte, bemerkte er plötzlich, dass er beobachtet wurde und hob seinen Blick, der sogleich in den Augenhöhlen eines anderen Skelettes auf der anderen Seite des Feuers fiel. Er konnte die Gestalt durch das lodernde Feuer kaum erkennen, doch ein einziger Blick auf den Hüftbau verriet ihm, dass es sich um ein weibliches Gebein handelte.
Er ertappte sich dabei, wie er mindestens drei Stunden - so kamen ihm die eigentlichen zehn Sekunden nämlich vor - in den weiblichen schwarzen Augenhöhlen badete und schreckte hoch.
Er stellte sich selbst die absurde Frage, ob sie ihn angelächelt hatte oder nicht, was bei der natürlichen Grinserei eher ein Witz seines Unterbewusstseins sein sollte.
Und doch: Irgendetwas sagte Argian, während er sie wieder aus den Augen verlor und nur mehr gleißende Flammen sah, dass sie ihn tatsächlich angelächelt hatte - auf psychischem Wege.
Oder das menschliche Blut bildete bereits die ersten Phantasierungserscheinungen.
Er schüttelte sich selbst und den Gedanken weg, nahm noch einen Schluck Blut (dieses Mal das eines normalen Soldaten, das er wesentlich leichter vertrug) und stürzte sich wieder ungehemmt in die rhythmische Knochenmasse.
Und dann stand sie vor ihm.
Sie mochte zwar nur aus Knochen bestanden haben, doch ihre Art, wie sie da stand, war zierlich und zerbrechlicher als eine chinesische Ming-Vase.
Und diese Hüften! kreiste es in seinem jungen Schädel.
Dann verschwand alles um Argian herum. Die Menge, die Melodie, die Trommeln, das heiße Feuer (wobei er es womöglich gar nicht fühlen konnte ohne Nerven), Boden, Himmel, die talbildenden Berge und die knochigen Hauskirchen. Alles versank in einem schwarzen Meer.
Nur sie war noch da.
Das ist wahrscheinlich ihr Bann! schlug seine innere Stimme vor.
Sie kam näher. Und sie bewegte sich nicht wie ein Skelett, mehr wie eine Katze, nur ohne Fell und Fleisch. Und statt Gelenken hatte sie Federn, statt Knochen zarte Keramik.
Geh auf sie zu!
Das ließ er sich nicht zweimal sagen und er erwürgte den Gedanken, der besagte, dass alles nur durch seinen Blutrausch hervorgerufen wurde.
Zwei Ewigkeiten später standen sie sich gegenüber.
Auch wenn sie nur aus Knochen bestand, zeichnete sein Unterbewusstsein weibliche Rundungen auf ihre Gebeine.
Und mit einem solch extremen Laut meldete sich die Umgebung wieder zurück. Es wurde lauter gesungen und gespielt als zuvor, wilder getanzt und auch noch viel mehr getrunken.
"Wie ist dein Name?" fragte Argian grinsend, obwohl er viel lieber ernst dreingeschaut hätte im Moment und seine Stimme überschlug sich dank der Lautstärke beinahe, um den Lärm zu übertönen.
"Ahanara," sagte sein weibliches Gegenüber, und es war, als würden ihre Worte in eine Woge zerschmelzen und sich in Argians Ohrhöhlen einnisten und dort von innen seine Schädeldecke massieren.
"Was für ein... verzaubernder Name," stammelte Argian. Er wollte plötzlich so viele Dinge auf einmal fragen und sagen und brachte dadurch nur ein Grinsen heraus, nichts weiter.
Und gerade als sie ihr Gebiß öffnete, um ihre Stimme zu synchronisieren, ertönte ein lautes Geschrei von links. Argian und Ahanara rissen die Schädel in die Richtung, aus der der Lärm kam und erschraken vor dem Anblick:
Jemand war ausgerastet und hatte im Vollblutrausch, nachdem er aus der Anlage zurückgekehrt war, sämtliche Skelette niedergestreckt, weil er verloren hatte.
Die Menge geriet teilweise in mehr amüsierende Panik und floh in alle Richtungen. Argian und Ahanara lag nichts daran, zu warten. Sie waren nicht besonders auf eine Begegnung mit der Anlage aus und versteckten sich in einer Hütte, dessen Tür offen stand und die Besitzer wohl in der Anlage oder einfach nicht da waren.
Die Gelegenheit! meinte Argians Gewissen, ohne, dass er wirklich herausfand, was es damit gemeint haben sollte. Etwas fing an, sich in ihm breit zu machen, etwas wohltuendes, wohlfühlendes.
Ahanara hatte ihn bei der Hand genommen und zerrte den zähneklappernden Argian hinter sich her, stieg mit ihm eine Treppe empor, vergewisserte sich, dass sie allein waren in der düsteren Knochenbehausung und stieß Argian im ersten Stock kurzer(knochen)hand durch eine Tür, direkt auf ein Knochenbett.
Das war das Stichwort! schrie Argians Schicksal ins seelische Gehör. Oder war es Herr Zufall?
Ahanara sperrte hinter sich die Tür zu, knippste mit einem knochigen Laut das Licht aus (Menschen waren nur für ihre Erfindungen gut; wie zum Beispiel Strom) und als sie sich zu Argian umdrehte - küsste er sie.
Die Zähne klapperten aufeinander, nicht vorhandene Zungen wollten sich berühren, sie umschlangen sich und die Knochen ließen dabei ein Geräusch wie zeichnende Fingernägel auf einer Tafel von sich. Ihre Seelen wollten aus den weißen Knochengefängnissen ausbrechen und sich wild umgarnen. Er stürzte hinterrücks aufs Bett, als sie ihm mit dem Kopf leicht gegen den Brustkorb knackte, und zog sie zu sich. Ihre Rippen prallten ächzend aufeinander, und wieder klapperten ihre Gebisse. Ihre Bewegungen wurden wilder und wärmer, die Seelen zwängten sich an die Brustkörbe und erreichten sich schon fast an den Händen, als sie sich umwälzten und er nun auf ihr lag. Sie hob ihre zarten Beinknochen an, ließ sie um sein Becken gleiten und zog sie zusammen. Seine Seele stöhnte auf, gefolgt von ihrer.
Plötzlich, unter wildem Klappern, Quietschen und rhythmischen Bewegungen der ineinander geknoteten Gebeine, entließen die Seelen ihre Behausungen.
Argian sackte auf ihr scheppernd zusammen, Ahanara verließ ebenso die unheimliche Kraft, die sie am künstlichen Leben erhielt und etwas stieg von den beiden auf. Etwas, das nicht Rauch war, sondern einem in Schwerelosigkeit verirrtem Schleier ähnelte. Und es war doppelt und eng aneinander geschmiegt, wie zwei in Symbiose lebende Schlingpflanzen oder sich paarende Schlangen. Es war still. Der Raum wurde auf einmal zart erhellt durch das lebendige sanfte Grünlicht, das von den Geistern ausging; beinahe, als spiegele sich eine Wasseroberfläche in Zeitlupe an den Innenknochenwänden.
Noch vier unendliche Minuten oder Stunden schwebten die Liebenden über ihren Gebeinen, als hätten sie ihre Kleidung abgelegt und waren nun wirklich nackt; und zufrieden in Liebe versunken. Danach wurde das Licht langsam ruhiger und verschwand bis auf einen fahlen Schein; dies dauerte wieder eine halbe Ewigkeit.
Die Seelen sanken zu ihren Hüllen zurück, hatten es aber keineswegs eilig. Und als sie die Knochen wieder erreichten, erlosch das Licht endgültig und mit einem lauten Seufzer zog die unheimliche Kraft wieder in ihre Gebeine ein. Argian und Ahanara bewegten sich erschöpft, als würde ein betrunkener Puppenspieler an ihren Fäden ziehen.
Argian rollte sich von ihr herunter und sie blieben noch einige Minuten in der Traumwelt; die plötzlich durch das Aufreißen der Tür wie eine vermieste Zeichnung zerknüllt und in den Papierkorb geworfen wurde. Das Licht wurde herzlos durch die Dunkelheit geschossen.
Miger brannte vor Wut - und Blut.
"Argian? Wer ist dieser Mann?" Miger, der schräg in der Tür stand, krächzte und die Synchronisation seines Gebisses stimmte nicht ganz mit seiner Stimme überein.
Argian erschrak, sah Ahanara an, bemerkte ihre verwirrte Mimik (die es nur auf psychischer Ebene gab), betrachtete nochmals die weiblichen Hüften und sagte dann überzeugt: "Der Mann ist eine Frau. Darf ich vorstellen? Ahanara."
Der hält wohl auch nichts von der Wenig-Blut-Regelung seiner Frau! schimpfte Argians Gewissen.
Miger schreckte zusammen. Argian war noch zu jung, um sich um ein kleines Gebeinchen zu kümmern. Er verdiente ja noch nicht einmal genug, um es sich leisten zu können! Von seiner neuen Freundin ganz zu schweigen. Man konnte keine Seelenbabys abtreiben! War die ganze Aufklärung, die Miger und Hara vor einigen Jahren abgehalten hatten, für das Steißbein gewesen?!
Miger torkelte bei all seinen Gedanken, die plötzlich auf ihn einbrachen wie ein in sich stürzendes Kartenhaus und schließlich klappte er - im wahrsten Sinne des Wortes - zusammen.
"Hält man es denn aus, zweimal am Tag die Anlage zu betreten?" fragte Ahanara spöttisch als sie den bewusstlosen Knochenhaufen in der Tür sah.
"Er ist es gewöhnt, schätze ich." Argian stand auf und wollte die Gebeine seines Vaters behutsam aufheben, als wieder jemand in der Tür erschien.
"Ahanara? Bist du das?" Ein lallendes Skelett mit einem Glas voller Blut schwankte in das Zimmer und zertrampelte dabei die Gebeine von Miger. "Ahanara! Was machst du da? Wer ist dieser Kerl? Und was ist das für ein Trümmerhaufen??" Mit letzterem meinte er die knirschenden Knochen unter seinen Füßen.
Ahanara wäre bleich im Gesicht geworden, wäre sie das nicht schon gewesen und hätte sie eine Haut besessen. Sie starrte ihren Ehemann an, als wäre ein General mitsamt seinem Pferd an seiner Stelle gestanden. Sie stand vom Bett auf, Argian rannte zur selben Zeit zu ihr und drückte sie an sich, während der Ehemann auf die beiden zuschwindelte.
"Da dachte ich, ich hätte die vertrauenswürdigste Frau der ganzen verdammten Hölle und dann so etwas! Was fällt dir eigentlich ein? Und wer zum Teufel noch einmal ist das?" Er schrie so heftig, dass der Lichtdraht der Glühbirne zuckte.
Doch er wartete keine Antwort ab, sondern stieß Argian wuchtig mit dem Glas voll Blut gegen die Stirn, worauf Argian von der Wucht gepackt und gegen die Wand geschleudert wurde und seinen linken Arme verlor.
"Lass ihn in Ruhe!" kreischte Ahanara, ohne auf ihr Gebiss beim "Reden" zu achten. Sie riß mit enormer Kraft ein Stück Knochen aus der Bettwand und schlug ihrem Ehemann den Schädel ein; doch bevor dies tatsächlich geschah, wich er aus - mehr aus Trunkenheit, als aus Reaktionsfähigkeit. Ihr Schlag ging ins Leere und sie stolperte nach vorne, ihr Ehemann schlug ihr auf ihre Wirbelsäule und Ahanara blieb am Boden gelähmt und zuckend liegen.
Argian schrie ein klirrendes ohrenzerfetzendes "Nein!", das im ganzen Dorf zu hören sein musste. Mit der rechten Hand hob er seinen linken Arm vom Boden auf und drosch auf den Ehemann damit ein.
Als seine Hand nur mehr aussah wie eine kaputte Antenne und der Ehemann in zwei Teilen am Boden neben Ahanara lag, ertönten plötzlich Schreie aus dem Dorf.
Wahrscheinlich wieder ein ausrastender Wettbewerbteilnehmer. versuchte Argian's Gewissen ihn zu beruhigen.
"Hilf mir, Argian!" jammerte Ahanara und Argian wunderte sich plötzlich, woher sie seinen Namen wußte und dachte dann an seinen Vater, der ihn kurz zuvor angeschrien hatte.
Argian packte Ahanaras steif gewordenes Skelett, zog sie auf seinen Rücken, hängte sie in seine Rippen ein und verließ das Zimmer. Er flog die Treppen hinunter und rannte aus dem Haus. Dann wurzelte ihn Erschrecken auf der Stelle an den steinernen Boden.
Ein Dutzend schwere Generäle waren mit ihren gewaltigen Rossen ins Dorf eingedrungen und richteten Verwüstung an, wo sie nur konnten. Sie zerschmetterten wehrlose Skelette, zündeten die Knochenkirchen an und tanzten wild um das Leichenfeuer, das durch ihre Artgenossen am Leben erhalten wurde. Ein General befahl den anderen, die zerteilten Skelette aufzusammeln und zu den anderen Leichen in die Flammen zu werfen, um sie endgültig zu vernichten.
Argian traute seinen nicht vorhandenen Augen nicht. Er hörte, wie selbst die in seine Knochen eingehakte Ahanara aufschrak.
Und als sie die Blicke umherschweifen ließen und auf den Eingang der Höhle zu der Anlage legten, zerbrach alles endgültig in ihnen. Zwei Generäle waren auf den Weg hinein. Sie würden die Anlage zerstören und die Unsterblichkeit der skelettarischen Armee vernichten.
Argian konnte dies nicht zulassen.
So entschlossen wie noch nie in seinem "Leben" rannte er mit Ahanara in seinem Rücken zu dem Knochenhaus seiner Familie und erschrak abermals.
Mavun und Hara lagen in alle Teile zersplittet in dem Wohnzimmer, wo man sie wahrscheinlich während der Meditation überrascht hatte. Argian könnte versuchen, das Puzzle auf sich zu nehmen, würde für die Trennung zwischen den Knochen seiner Schwester und denen seiner Mutter aber wohl zu lange brauchen. Er konnte nichts mehr für sie tun.
"Schneller!" schrie Ahanara, die hinter ihnen einen General erblickt hatte, der bereits in ihre Richtung ritt; gemächlich, denn er hatte Zeit und glaubte den Sieg bereits in seinen Händen.
Argian war wie vom Teufel höchstpersönlich getrieben, erreichte binnen einer Sekunde das Schlafzimmer seiner Eltern, riss das Schwert für Ahanara und den Morgenstern für sich und seinen einzigen Arm aus dem Schrank seines Vaters und erschreckte fast zu Tode (zum endgültigen), als er den General plötzlich ohne Pferd hinter sich sah. Gerade als sein überdimensionales Prügelschwert auf ihn hinabsauste, machte er einen Satz aus dem Fenster, landete knallend auf dem Steinboden und brach sich sämtliche Zehen ab.
"Auf mit dir!" kreischte Ahanara. Argian vergaß seine Zehen und rannte in Richtung Höhle. Die zwei Generäle durften schon längst mit der Zerstörung begonnen haben.
Er rannte so schnell, wie ihn seine zehenlosen Füße trugen und klapperte dabei bei jedem Schritt, bei dem Ahanara auf seine Knochen prallte.
Auf dem halben Weg erreichte sie plötzlich ein weiterer General, diesmal auf einem der angsteinflößenden Huftiere. Er zögerte nicht lange, schob sein Schwert in den Brustkorb von Argian und hob ihn verkehrt in die Luft.
"Ich habe zwei!" stieß er jubelnd unter seinem Helm hervor und genau in dem Moment traf der brustkorbgroße Morgenstern seinen Kopf und malmte dessen Zacken tief in sein Gesicht. Fast im gleichen Atemzug zog Ahanara das Schwert hoch und rammte es dem General trotz ihrer Lähmung vertikal durch die Brust, sodass sogar das Pferd noch verletzt wurde. Der General ließ sein Schwert fallen, auf dem die zwei aneinandergeketteten Skelette hingen, Ahanara zog hastig ihr Schwert zurück, und der General fiel tot und staubaufwirbelnd auf den Steinboden. Das Pferd wieherte wütend und suchte schnell galoppierend das Weite.
Argian und Ahanara landeten ächzend auf dem Boden und diesmal brach sich Ahanara ihre Zehen ab.
"Wenigstens waren da keine Zehennägel," murrte sie sarkastisch.
Argian registrierte ihre Bemerkung nicht einmal, raffte sich mit quietschenden Knochen auf und legte - wenn er Schweißdrüsen gehabt hätte - schweißgebadet das letzte Stück zur Höhle zurück und hielt erst an, als sie die Anlage direkt vor sich sahen.
Und die beiden Generäle, die sich an der Anlage zu schaffen machten.
Sie schlugen mit ihren Schwertern auf das Gerät ein und schafften es, mühsam einige Knochensplitter in alle Richtungen springen zu lassen.
Auf einmal sahen sie auf, unterbrachen ihre Arbeit und gingen zielstrebig auf Argian und Ahanara zu.
"Was machen wir jetzt?" sagte Ahanara mit einer zittrigen Stimme. Sie hatte genauso wenig wie Argian Lust, endgültig zu sterben.
Argian ließ seinen rechten Arm mit dem Morgenstern baumeln und vermisste seinen linken.
"Wenigstens sitzen sie nicht auf ihren Pferden. Das macht sie um einiges schwächer." flüsterte Argian ihr zu.
"Meinst du?" fragte Ahanara ungläubig.
Die Generäle befanden sich nun kaum mehr als zehn Schritte von ihnen entfernt und begannen zu laufen und mit ihren Schwertern auszuholen.
Argian fuchtelte hilflos mit seinem Morgenstern herum, der ihn einmal um ein Haar von den Füßen gerissen hätte durch die enorme Fliehkraft.
Dann erreichten die Generäle die beiden und stießen beinahe gleichzeitig zu.
Ein Schwert durchbohrte beide Skelette und zerteilte einen Rippenknochen von Argian. Das andere, darauffolgende zerschmetterte Ahanara und mehrere Teile fielen von seinem Rücken, der bewusstlose Oberkörperteil mit Ahanara's Kopf hing noch an Argian's Rücken, gehalten durch das Schwert des ersten Angreifers.
"NEIN!" Argian's Wut explodierte wie ein Vulkan. Er riß, noch während er und der Oberkörper von Ahanara auf dem ersten Schwert aufgespießt waren, seinen Morgenstern empor und versank ihn zwischen den Beinen des Generals des ersten Schwertes, worauf ein wahrer Blutschauer über sie hereinbrach. Der General spie Blut, stieß einen unmenschlich hohen Schrei aus, sackte zusammen und ließ das Schwert los. Argian duckte sich sofort, als der zweite General, der inzwischen die Zeit gefunden hatte, sein Schwert aus dem Knochenhaufen zu ziehen und für einen zweiten Schlag auszuholen, wieder in seine Richtung stach. Er verfehlte um Ohrknochenbreite die Wirbelsäule von Argian. Der Oberkörper von Ahanara fiel zu Boden und verlor sich im Staub.
Plötzlich zuckte das grünliche Licht der Anlage und irgendwoher sprühten gleißende Funken.
Argian wollte einen Schritt zurück machen und stolperte über die Leiche des ersten Generals.
Der zweite General grunzte fröhlich und triumphierend und ließ sein Schwert mit aller Kraft herabzischen. Der Hieb zerschmetterte nicht nur beide Beine Argians, sondern auch den Leichnam des ersten Generals.
Die Anlage gab ein furchtbar gequältes Raunen von sich, als würde Metall an Metall gerieben. Der zweite General blickte in Richtung des Kanisters der Anlage, rannte plötzlich darauf zu und schlug blitzartig und mehrmals darauf ein.
Er schimpfte die Anlage eine Tötungsmaschine, den Ursprung des Todes so derart vieler Menschen, unter anderem auch seiner Familie.
Argian saß wie benommen da und starrte fassungslos auf das Spektakel, das sich ihm bot. Er glaubte sogar Tränen auf dem Hals des Generals zu sehen, oder war es nur Schweiß?
Aber die Anlage war so etwas wie Argians Familie. Er konnte es einfach nicht zulassen. Er musste Zeit gewinnen. Wofür auch immer.
"Warte! Du sensibler gelierter Speckaufstrich!" Was besseres fiel Argian auf die Schnelle nicht ein. Doch zu seiner Überraschung wirkte es.
Der General hielt inne und musterte Argian mit tötlichen Blicken.
"Ja, genau dich habe ich gemeint! Ist ja sonst niemand mehr am Leben, oder? Wieso willst du diesen Kanister zerstören?" Argian improvisierte, so gut er konnte, wenngleich es auch sehr schlecht war.
Die Anlage würde Blut spucken, hätte sie es gekonnt. Statt dessen stoben überall Funken von der Decke, der Boden begann leicht zu zittern und wieder ertönte das quälende Reibungsgeräusch.
Der General kam wieder auf Argian zu.
Und plötzlich geschah es.
Ein Schwert, das aus dem Nichts geworfen wurde, schnitt in die grün brodelnde Röhre oberhalb des zweiten Generals, der verdutzt nach oben sah, als diese explodierte.
Ein glühender grüner Regen brannte auf den General herab, der wie am Spieß zu schreien anfing, überall aus seinen Öffnungen an seiner Rüstung stieg hässlicher Qualm auf, der das Verbrennen von Haut und Fleisch verriet. Und schließlich zerriss es den General mitsamt seiner Rüstung in tausend Teile.
Aus der Röhre schüttete es noch immer giftige Seelenflüssigkeit, hinter dessen Strom auf einmal eine dunkle Gestalt zum Vorschein kam. Sie wandelte zum Kanister, drückte und schaltete herum und der Strom aus der zerstörten Röhre versickerte.
Die knochige Gestalt trat hinter dem Kanister hervor und Argian erkannte den Schamanen.
"Welch eine Freude!" Argians Stimme überschlug sich beinahe und sein Gebiss war vor lauter Freude nicht mehr unter seiner Kontrolle.
Das Schamanenskelett ging langsam auf Argian zu, hob dessen Beine und Oberkörper auf und legte alles in die Luke.
"Wo ist dein linker Arm?" fragte der Schamane mit einer dunklen Stimme und seine dunklen Augen riefen in Argian neben Freude auch ein wenig Angst hervor. Als würden tatsächlich noch Augen in den Höhlen vorhanden sein, aber keineswegs menschliche.
"Der ist reif für den Knochenplatz." antwortete Argian schlüsselbeinzuckend.
Der Schamane ging ohne ein weiteres Wort hinter den Kanister und bediente die Anlage, machte seine übliche Runde und zischte die gewöhnlichen ungewöhnlichen Worte. Da eine Röhre ausgefallen war, dauerte die Heilprozedur um ein paar Sekunden länger.
Argian konnte danach endlich wieder auf eigenen Füßen stehen. Er wollte sofort die Knochen von Ahanara aufsammeln und in die Luke legen, doch der Schamane hielt ihn mit einem festen Druck auf Argians Schlüsselbein zurück.
"Wir werden später dafür Zeit haben." sagte er tief.
Der Gesichtsausdruck - und auch wenn er nicht wirklich vorhanden war - machte Argian klar, dass es auch so war.
Der Schamane nahm kurzerhand das Schwert aus der knochigen leblosen Hand Ahanara's und befahl Argian, den Morgenstein mit seinem einzigen rechten Arm zu nehmen.
Dann marschierten sie hinaus aus der Höhle, wo weitere sieben Generäle noch immer Skelette verbrannten, Häuser anzündeten und Kreise um das Feuer drehten.
Der Himmel war noch rötlicher, als jemals zuvor und die Steinlandschaft sah traurig und karg aus, als wäre sie es, der das Lebensband durchgeschnitten wurde.
"Pass auf, Argian." sagte der Schamane und Argian konnte gar nicht anders. Der Schamane begann, geheimnisvolle Zeichen in die Luft zu schreiben. Dann stieß er fremdartige Laute aus, die manche Generäle auf ihn aufmerksam machten.
Plötzlich züngelten grüne Blitze um die Arme des Schamanen. Seine Stimme schrie nun immer wieder ein und dasselbe Wort, wurde dabei immer lauter und bebender. Und mit einem gewaltigen Donnerschlag sprühte eine geballte Blitzfontäne gen Himmel und zerriss ihn. So schnell und laut der Zauber des Schamanen auch erschien, so schnell erlosch er auch wieder.
Das war alles? fragte sich Argian’s Schicksal krankhaft belustigt.
"Weg hier! Jetzt heisst es Zeit gewinnen!" kreischte der Schamane und zog Argian an seiner Wirbelsäule hinter sich her.
Die Generäle galoppierten schnell auf die beiden zu und noch bevor Argian und der Schamane eine Deckung erreichen konnten, zerschmetterte ein Schlag den Schamanen in zwei Teile. Argian fuhr herum und schlug dem Pferd des Angreifers mit geballter Kraft seines Morgensternes auf die Schnauze. Es blieb so abrupt stehen, dass der General kopfüber vorne aus dem Sattel geschleudert wurde und sich das Genick am Steinboden brach und reglos liegen blieb.
Der nächste General war zur Stelle, kaum dass Argian sich vom ersten erholt hatte. Das Schwert zog pfeifend durch die Luft und streifte den Schädel von Argian, der sich hektisch geduckt hatte, um das Schlimmste gerade noch zu verhindern.
Wieder zog Argian seinen Morgenstern in die Höhe und der General reagierte und schlug Argian noch während er vorbei ritt mit einer unglaublichen Präzision den zweiten Arm ab, ließ sein Pferd noch ein Stück traben und plötzlich war der armlose Argian von zu vielen Generälen umgeben, als dass es noch irgend etwas genutzt hätte, sich zu wehren. Er sank auf die Knie und sah sich selbst in Gedanken weinend. Er hatte an diesem Abend mehr über Liebe, Leben und Tod erfahren, als in den gesamten letzten Jahren zusammen. Und nun würde es für immer dunkel werden.
Ein General gab einen knappen abfälligen Befehl von sich und ein anderer zog sein Schwert und holte aus.
Argian sah in den roten, beinahe brennenden Himmel und wünschte sich, Ahanara zu sehen.
Der General ließ sein Schwert sinken - und hielt plötzlich inne.
Die Erde erzitterte dermaßen, dass Argian aufgeschüttelt wurde und die Pferde rings um ihn heftig zu wiehern begannen.
Dann noch einmal einen viel wuchtigeren Donnerschlag, der von unten kam und der die Erde beinahe aus den Fugen riß. Vier der Pferde fielen hilflos zu Boden und zogen die Generäle darauf mit sich.
Als Argian aufsah und in die Richtung sah, in der der Eingang zu dem Tal lag, spürte er ein Entsetzen, das es noch nie auf Erden gegeben hatte.
Eine unvorstellbar hässliche gebirgshohe Skelettkreatur erschien zwischen den Bergen. Seine Konturen glühten grün, wie der Blitzstrahl des Schamanen, die Röhren der Anlage oder die umschlungenen Seelen von Argian und Ahanara. Es hatte gewaltige Klauen, wuchtige Beine, die mit tonnenschweren verwesten Muskeln besetzt waren und einen riesigen wild um sich schlagenden Schwanz, auf dem sich Zacken abstießen.
Und es kam näher. Die Erde war wie ein vor Kälte zitterndes Skelett, ums tausendfache verstärkt. Die Generäle hatten mittlerweile alle ihre Sättel gezwungenermaßen verlassen müssen und kämpften sich mühevoll auf die Beine.
Die grün schimmernde laut brüllende Kreatur stand mit einem Mal vor den Generälen und Argian. Es öffnete mit einem absolut fremdartigen Kreischen das Knochengebiß, das mehr spitze Zähne aufwies, als zweihundert Wölfe zusammen, und ließ Millionen und noch viel mehr grüne, schreiende und zischende Seelen auf die Generäle und Argian herabfallen. Es war ein derart betäubender Lärm, dass ein General schon alleine auf Grund der Lautstärke in ein rotes Etwas zerbarst. Die Seelen fraßen sich durch die Rüstung oder umgingen sie einfach, und saugten an den lebenden. Nach der Reihe fielen die einzelnen Hände, Arme, Füße und Beine ab, und die Schreie wurden immer greller und schmerzerfüllter und schließlich, als nur mehr die nackten schwarz behaarten Rümpfe der Generäle übrig waren, fraßen sich die Seelen durch die Nasen, Ohren, Münder oder einfach durch die Schädeldecken in die Gehirne und saugten alles Leben aus ihnen heraus.
Die gewaltige und laut atmende Skelettkreatur stand da und wartete auf seine Seelen. Diese hinterließen eine wahre Augenweide an Blut und Leichenteilen, als sie endlich wieder im Gebiss der Bestie verschwanden und sich diese dieses Mal zu Argians Verblüffung absolut lautlos umdrehte und am Horizont verschwand.
Argian starrte dem grün schimmernden Untier noch mindestens zwanzig Minuten nach. Erst dann erwachte er aus seiner Starre, sprang auf und rannte zu der Anlage. Mit aller Anstrengung schaffte er alle Teile von Ahanara mittels seines Gebisses in die Luke (ohne die Zehen, die noch im Sand außerhalb der Höhle verborgen waren).
Dann hatte Argian ein Problem. Wie sollte er die Anlage bedienen? Er erinnerte sich an die Worte, die der Schamane immer wieder schrie, aber er sah nie wirklich...
Ein klirrendes Geräusch zerfetzte regelrecht seine Gedanken. Die Anlage arbeitete. Ohne sein Zutun. Sie war einfach angesprungen. Die drei übrigen Röhren glühten eifriger als sonst, und die Maschine arbeitete sogar schneller, als mit vier.
Ein Werk der Seelen?
Ahanara stieg, gefolgt von dem komischen Seelenqualm, aus der Luke und rannte zu Argian, um ihn stürmisch zu umarmen, wobei ihre Knochen klapperten.
Sie sagten nicht ein Wort. Sie hatten noch einiges zu tun. Ahanara riß den linken Arm eines Generals in der Höhle ab und schälte ihn mit unglaublicher Kraft, bis nur noch Sehnen und Fleischfetzen daran hingen.
"Ich hoffe, er passt." sagte sie nebenbei.
Argian antwortete nicht, er glaubte bereits fest daran, dass sie sich seelisch verständigen konnten.
Zusammen mit Argians rechtem Arm, den sie schnell geholt hatte, und dem neuen linken Arm des Generals, steckte sie Argian in die Luke (ebenfalls ohne die verlorenen Zehen) und Sekunden später erstrahlte ein neuer Argian aus dem Qualm hervor.
"Los, nun die anderen!" sagte Argian und die beiden machten sich an die mühsame Arbeit.

Sie arbeiteten lange, bis sie wieder ihre ganze Armee aufgebaut hatten. Einige hatten sie endgültig in den Flammen verloren, oder einfach nicht mehr zusammenbauen können, da sie zu zerstreut lagen. Argian war nun unendlich dankbar, dass sie sich auf ihre gewaltigen Kreaturen aus der Unterwelt verlassen konnten, wann immer sie Hilfe brauchten.
Schon bald lag wieder ein unglaublich großes Heer bereit, gegen die Menschen zu kämpfen, auch wenn es nur zum Totschlagen der Ewigkeit gedacht war. Und die Legenden und Sagen um Argian und Ahanara wurden selbst unter Menschen weiterverbreitet und nicht selten mit den biblischen Stellen von Adam und Eva verglichen.