Muddasheep - Part 4 - The Sheepmung

"Wir orteten ein weiteres Nest zehn Kilometer weiter südlich!" gab das Funkgerät in den Händen des Anführers der Acht-Schaf-Gruppe von sich.
"Wir werden uns darum kümmern." sagte der Anführer und steckte sein Funkgerät zurück in die dafür vorgesehen Halterung an seinem Gürtel, gleich neben dem EFOM-Emblem. "Ihr habt es gehört, Schafe. Wir haben soeben ein neues Ziel erhalten."
Die sieben Schafsoldaten hinter dem Anführer nickten übertrieben und schrien: "Ja, Sir!"
"Und lasst bitte das Sir, das wirkt so menschlich." nörgelte der Anführer.
Sie wanderten Richtung Süden durch die heruntergekommene Stadt. Überall existierten Einschlagslöcher, manche davon noch lauwarm. Die Gebäude waren meistens total ineinander zusammengebrochen. Hie und da traten Flammen aus den Trümmern. Unter dem Schwarz und Grau der Landschaft war zusätzlich noch rote Farbe vorherrschend: Menschenblut.
Der Anführer sah auf seine Karte. "Weiter!" befahl er schließlich.
Nach mehreren Minuten, die die Ausrüstungen der Schafsoldaten immer schwerer auf deren Rücken erschienen ließ, erreichten sie endlich die gewünschte Stelle.
Der Anführer erhob seine Hand und die Schafe blieben prompt stehen. Prüfend ließ er seinen Blick wandern, gefolgt vom Lauf seiner modifizierten Shotgun ("Die Menschen wußten nicht wirklich, welch Potential in dieser Waffe steckt." - Muddasheep, Studie der Menschen, Teil 67). Sein Blick streifte ein dunkles Loch inmitten von Metalltrümmern und verkohlten Hausmauern. "Vorwärts!"
Die Gruppe schlich sich so leise es die schweren Rüstungen zuließen an das Loch heran und hielten erneut an.
Der Anführer kniete sich direkt über die Öffnung und lauschte. Er hörte etwas weiter entfernt Stimmen. Menschenstimmen. Heftig nickend wich der Anführer zur Seite und ließ zwei aus seiner Truppe zum Loch vortreten. Sprengstoffschafe.
Die beiden wirkten mit deren Helme wie geistlose Boten des Todes, was sie im Grunde auch waren, als sie insgesamt vier Pakete in das Loch schossen und mitsamt der restlichen Gruppe den Ort hastig verließen. Hinter einem ausgebrannten Autoskelett gingen sie in Deckung und warteten auf den Knall, der plötzlich eintraf und die Truppe zusammenzucken ließ, trotz der Erwartung.
Der Anführer zückte die Karte und markierte das Gebiet mit einem roten X. "Wieder ein Nest weniger."

Laut aufschreiend hielt die Krankenschwester - jedenfalls war sie dies vor dem Krieg - plötzlich das ebenso grell kreischende Baby in ihren überanstrengten Händen. Blut und Schleim machten die Erträglichkeit der ersten Geburt, bei der sie die Hauptrolle - neben der Mutter - übernommen hatte, nicht gerade leichter. Sie drückte das kleine menschliche Wesen einem der Zuschauer in die Hände, zog ein Taschenmesser aus ihrer Jacke, die an der Wand auf einem provisorischem Haken hing, durchtrennte die Nabelschnur und wusch sich ihre Hände im Regenwasser, das von oben in die Kanalisation ronn.
"Gratulation, ein Mädchen." sagte die Krankenschwester zu der Mutter. Die vier Personen, die um die Gebärende versammelt waren, wichen nun etwas zurück und kümmerten sich um das Neugeborene. "Elaine? Hörst du mich?"
Die Krankenschwester trat etwas näher an die auf einem schäbigen morschen Holztisch liegende Elaine, die mit einem zur Seite geneigtem Kopf, geschlossenen Augen und noch immer mit gespreizten Beinen da lag.
"Elaine, hörst du mich?" fragte die Krankenschwester erneut. "Du hast ein Mädchen zur Welt gebracht, oh mein Gott, unter diesen Umständen!"
Es war viel Zeit verronnen, seit zwei Männer dieser kleinen Ansammlung menschlicher Überlebenskünstler darum bemüht waren, die Welt zu retten, jedoch waren sie nie mehr zurückgekehrt. Die "Verbliebenen" konnten sich nicht nur dies nicht erklären, sondern auch, warum die Gruppe in der Kanalisation so lange überleben hatte können. Das Kanalwasser glich keinesfalls mehr dem grauenhaften Wasser, das es früher einmal war. Im Gegenteil, es war Regenwasser, vermischt mit ein wenig Schlamm. Sie nahmen an, dass keiner mehr Toiletten benutzte und auch die Straßen waren von Fahrzeugen geleert. Kaum ist der Mensch "fort", scheint sich die Natur etwas zu erholen.
Elaine war kurz nach dem Verschwinden der zwei Lebensmüden aufgefallen, dass sie schwanger war. Ihren Freund allerdings hatte sie vor Kriegsbeginn nicht wieder gesehen, da er einrücken musste. Und somit wahrscheinlich auch nie wieder sehen würde.
Die Krankenschwester fühlte mit ihren beiden Händen den Puls am Hals von Elaine. Einer der vier Helfer drehte sich vom Baby weg und sah gespannt in Richtung Elaine.
"Ihr Puls ist schwach und scheint weiter zu sinken." prognostizierte die Krankenschwester. Sie wurde nervös. In ihrer Ausbildungszeit hatte sie erst einmal einen Menschen vor ihren Augen sterben sehen und sie war nicht wirklich scharf darauf, es ein zweites Mal mitansehen zu müssen, schon gar nicht, wenn die Patientin ihr besonders am Herzen lag. "Elaine! Öffne deine Augen!" Sie tätschelte ihre Wangen. Zuerst etwas leichter, dann, als wieder keine Reaktion festzustellen war, fester.
Der einzige der Helfer, der sich Elaine zugedreht hatte, ging nun auf sie und die nervöse Krankenschwester zu. "Kommt sie wieder zu sich?" fragte der dunkelhaarige Mann mit seiner rauhen Stimme, die in letzter Zeit zu starke Erkältungen erleiden musste.
"Ich ... weiß es nicht." zögerte die Krankenschwester.
Plötzlich öffnete Elaine ihren Mund und dann langsam und kaum sichtbar erhoben sich ihre Augenlider.
"Elaine!" schrie die Krankenschwester. "Anthony, stehen Sie nicht herum und starren sie an, helfen sie mir."
Die Krankenschwester zog ihren einzigen Pullover aus, den sie noch in Besitz hatte. Anthony trat auf die andere Seite und hob Elaine am Kopf und den Kniehöhlen an. Elaine breitete den Pullover auf dem Tisch aus und gab Anthony ein schnelles Handzeichen, er solle sie wieder ablegen. Sanft führte er ihren Befehl aus und beobachtete wie sie Elaine mit den Ärmeln einwickelte und noch den Pullover von Anthony verlangte, den sie auf Bauch und Brust Elains legte.
"Elaine! Hörst du mich?" Elaines Augen schienen mit einem "Nein" zu antworten, als plötzlich eine leichte Regung am Hals den beiden Menschen um Elaine klar machte, dass sie versuchte, zu reden.
"Au..." stöhnte Elaine hervor.
"Elaine! Oh Gott..." Die Krankenschwester beugte sich zu Elaine hinunter und umarmte sie und schrie weiter ihren Namen in Elaines Gesicht, als diese wieder ihre Augen zu schließen begann.
"Au...riane..." flüsterte Elaine und schluckte. Sie drehte ihren Kopf so, dass ihre geschlossenen Augen auf den kleinen Lichtspalt in der Decke zeigten.
"Elaine!" schrie die Krankenschwester erneut. Anthony stand wie angewurzelt da und starrte in das Gesicht, leicht erhellt von der Sonne, das sich durch den kleinen Spalt in ihr Antlitz zwängte, als wäre es Elaines letzter Wunsch gewesen. Der Brustkorb erhob sich ein letztes Mal und sank sogleich mit einem leisen Seufzer zurück.
Die Krankenschwester brach auf Elaines Körper zusammen und begann Anthonys Pullover mit ihren Tränen zu ertränken.
Das Baby schrie noch immer aus dem Hintergrund. Es war von den anderen Helfern mit allen Kleidungsstücken eingewickelt worden, die sie trotz der Kälte in der Kanalisation entbehren konnten.
Anthony, der noch immer leicht benommen da stand, wiederholte das letzte Wort von Elaine: "Auriane... So sei ihr Name."
Sein Blick starrte nun nicht mehr in das leblose Gesicht vor sich, sondern in das des neugeborenen Mädchens.

"Ich habe tolle Neuigkeiten!" rief Simon, als er die Leiter beinahe runterstürzte, die nach oben führte.
Ein alter Mann, wahrscheinlich der älteste dieses menschlichen Nestes, trat an ihn heran und musterte ihn von oben bis unten auf Verletzungen.
"Keine Angst, Edward. Ich bin keinem der Schafe über den Weg gelaufen und bin auch sicher, dass mir keines gefolgt ist." versicherte Simon mit einem ehrlichen Gesichtsausdruck.
"Nun gut, ich will deinen Worten Glauben schenken. Doch bin ich immer noch der Meinung, dass solche Ausflüge eine große Gefahr für uns alle darstellt." Edwards linke Augenbraue verzog sich und sein Gesicht verwandelte sich zu einer besserwisserischen Miene.
"Jaja, ich weiß. Doch wie sollen wir sonst an neue Informationen gelangen?" Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich von Edward ab und stolperte zu seinem restlichen Publikum, das weniger misstrauisch auf seine Neuigkeiten wartete. "Ihr werdet es nicht glauben!"
"Sag schon!" schienen alle beinahe gleichzeitig rauszuschreien.
Simon räusperte sich. "Muddasheep..." Er erhob seine beiden Arme zu einer beeindruckenden Geste. "...ist tot."
Die Augen seines Publikums weiteten sich, manche Münder wurden vor Erstaunen weit aufgerissen.
Edward ging auf Simon zu. "Was erzählst du da, Bengel?" zischte er. "Hast du ihn in seinem Sarg gesehen? Oder ist das nur wieder ein Gerücht, so wie das letzte, dass der Krieg bald zu Ende sein würde?"
"Ich war sehr weit an der Grenze, ich hörte ein Gespräch zwischen ein paar Schafen ab, die sich mit zwei der EFOM-Soldaten unterhielten. Sie machten sich große Sorgen um ihre Existenz und ihre Zukunft." erzählte Simon.
"Das wäre unsere Chance!" stieg plötzlich eine Frau aus den letzten Reihen in die Diskussion ein und schuf sich einen Durchgang zu Simon. "Ohne Muddasheep sind die kleinen Schafe leicht zu scheren!"
"Meinst du?" Edward zog erneut seine sture Miene auf. "Ich ziehe es lieber vor hier unten zu sterben, als einem Schaf da oben das Glücksgefühl zu geben, er hätte erneut einen Menschen erlegt. Ich bin mir mehr wert als ein weiterer Strich in einer Liste." Er verschränkte seine Arme und ignorierte das hässliche Geräusch, dass sein rechter Ellbogen von sich gab.
"Mag sein, dass du so denkst." entgegnete ihm Simon. "Ich werde die anderen Menschengruppen verständigen, die sich nicht weit von hier entfernt angesiedelt haben." Simon war so froh über die Information über den Tod von Muddasheep (obwohl er es selbst kaum zu glauben vermag), dass er, wenn er nicht ein gebrochenes Bein hinter sich hatte, hundert Luftsprünge auf einmal durchführen würde. Er sah darin die Chance, den Schafen sein dreijähriges Leiden in der Kanalisation zurückzuzahlen.

"Essen ist fertig!" kam es aus der kleinen Hütte am Rande des Dorfes. Die Stimme ihrer Stiefmutter ließ Auriane immer wieder einen Schauer über den Rücken ziehen. Sie war gerade dabei, den Schafen zuzusehen, die sich in einem kleinen Gehege tummelten und sich gegen den Holzzaun lehnten, der stabiler war, als er zu sein schien. Auriane konnte sich nicht denken, dass der Mensch vor zwölf Jahren noch unter der Herrschaft von diesen unscheinbaren Tieren stand. Auch konnte sie ihren Kopf nicht in die Vorstellung zwingen, dass die Schafe einst nicht reden konnten und offene Mäuler besaßen, nicht die von Geburt an zugenähten Lippen.
"Auriane!" schrie ihre Stiefmutter abermals. Wieder dieses komische Gefühl in Aurianes Brust.
"Ich komme!" antwortete sie gezwungenermaßen, denn ihr Magen war weder hungrig, noch durstig.
Es war Sonntag. An diesem Tag wollte ihr Stiefvater immer ein Schaf zum Mittagessen. Am Mittwoch auch, doch am Sonntag sollte immer die besondere Sauce dabei sein, die sich als sehr mühsam in der Zubereitung herausstellte. Auriane betrat als Letzte die bereits nach Schaffleisch riechende Küche und setzte sich zu Tisch.
Auriane war drei Jahre alt gewesen, als der Krieg zu Ende war und das damalige einzige Liebespaar in ihrer Gruppe hatte sie aufgenommen. Mitsamt fünf anderer menschlicher Haufen hatten sie sie ein neues Dorf namens New Hope gegründet. Ihr Stiefvater war gelernter Maurer gewesen und hatte etwas Ahnung von Holz.
Ihr Haus bestand aus insgesamt drei Räumen: einem kleinen Bad ohne Spiegel, aber mit Badewanne, einer Küche mit kleinem Wohnbereich, und einem kleinen Schlafraum mit drei Holzbetten, dessen Matratze aus mehreren alten Kleidungsstücke bestand.
Fließendes Wasser gab es keines. Allerdings errichtete man in der Mitte des Dorfes einen Regenfänger und wenn man nicht allzuwenig Zeit zur Verfügung hatte, konnte man drei Stunden zurücklegen bis zu einer köstlichen Quelle.
Strom existierte nicht. Die Kraftwerke in diesem Land waren entweder zerstört worden oder einfach nicht mehr in Betrieb auf Grund Personalmangels.
Auriane konnte kein Schaffleisch mehr sehen. Ihr Mitgefühl für die armen Tiere draußen im Gehege ließ ihren kleinen Hunger verkommen und Übelkeit entstehen. Ohne ein Wort zu den erstaunten Eltern, die "ihr" Kind anstarrten, als es plötzlich aufstand, nahm sie ihren mit viel Liebe belegten Teller, verfrachtete es in den Mülleimer und marschierte mit großen Schritten nach draußen. Die Sonne schien durch die großen dunklen Wolken hindurch und tauchten das Dorf in eine düstere Atmosphäre.
Auriane lief zu einer kleinen Holzhütte, die ein Bestandteil des Kreises war, in dem die wenigen Gebäude des Dorfes ihren Platz um die Statue eines gewissen Simons und um den Regenfänger hatten. Mehrere Pferde fand man in dem Schuppen vor. Auriane entschied sich für einen schwarzen Hengst, der ihren Nachbarn gehörte. Ungesattelt ritt sie los und ließ das Dorf und ihre unechten Eltern, die bereits in der Tür standen und mit weit offenen Mündern Auriane hinterherstarrten, zurück.

Überall auf der Welt existieren Aussenseiter, Menschen die sich nicht in die Gesellschaft einfügen können oder wollen. Etwa zwanzig Kilometer vom Dorf entfernt erhob sich die Erde leicht und formte einen kaum sehbaren Hügel. Früher hatte hier ebenfalls die Menschheit gewütet und somit waren auch hier Überreste des menschlichen Alltags zu erkennen. Ausgebrannte Wagen, schwarze Grundmauern, unidentifizierbares Gerümpel und herumfliegender Staub und tanzende Papierfetzen, die der Wind fröhlich vor sich hertrug, als wäre er ein Kleinkind. Auriane hielt ihr Pferd vor einem für einen ortsunkundigen kaum erkennbaren Eingang an. Sie stieg ab und blieb eine Weile stehen und lauschte.
"Marilyn!" schrie sie plötzlich und erschrak beinahe, als sie das Echo hörte.
Marilyn war dieser Aussenseiter, nicht weil er als Totengräber oder Henker arbeitete oder ins Exil geschickt worden war. Noch bevor man EFOM auslöschte und Muddasheep ermordet in seinen Gemächern aufgefunden hatte, war er als der persönliche Waffenschmied von Muddasheep tätig. Er hatte bei der Entscheidung zwischen Sklaverei und Tod ersteres gewählt und war damit keinesfalls alleine. Mehrere andere Menschen ließen sich ebenfalls Fesseln anlegen und als Diener der Schafe ausgeben.
Marilyn war nicht sein richtiger Name. Das hatte er Auriane einmal erzählt. Jedoch verschwieg er seine wahre Identität, die er vor der Sklaverei führte.
Auriane hörte ein leises Knarren in dem Bereich in dem sie es erwartet hatte. Eine gewaltige Stahlplatte schob sich unter unbrauchbaren und rostigen Fahrrädern zur Seite und Marilyn trat ans fahle Tageslicht.
"Auriane, welche erfreuliche Überraschung, dich hier wieder einmal anzutreffen!" empfing sie Marilyn mit offenen Armen. "Was treibt dich hierher?"
Auriane lächelte beruhigt, als sie Marilyn sah, der ihren Zorn gegenüber den Rest der Menschheit für ein paar Sekunden vergessen ließ.
"Vieles, Marilyn." seufzte sie und ließ sich in seine freundschaftliche Umarmung einbinden.
Auriane hatte sich nach dieser Nähe gesehnt. Marilyn war einer der wenigen Personen, mit der sie gerne Kontakt hatte. Nach ein paar Sekunden ließen sie wieder los.
"Gut, ich habe natürlich Zeit. Tritt ein." Marilyn führte sie in sein Anwesen aus zusammengeflickten Metallteilen, dessen Abstammung - bis auf den Kotflügel eines Autos - schwer zu erkennen war.
"Setz dich." Marilyn deutete mit seiner linken auf ein kleines, zerfranstes rotes Sofa, das unter der einzigen Lichtquelle - einer alten Glühbirne, die manchmal flackerte - ihre letzten Jahre zählte. Auriane nahm Platz und Marilyn setzte sich ihr gegenüber auf eine schwarze verstaubte Couch.
"Nun erzähl." forderte Marilyn mit einem freundlichen Unterton und einem Lächeln in seinem Gesicht von Auriane. Einer der wenigen echten Gesichtzüge, die sie in letzter Zeit zu sehen bekam.
Auriane überlegte. Konnte sie ihm erzählen, dass ihr die Schafe leid taten, nachdem, was sie ihm angetan hatten?
"Mir sind heute besonders die Schafe aufgefallen in unserem Dorf... in einem kleinen engen Zaungehege... mit ihren zugenähten Mündern und ihren traurigen Augen..." erzählte Auriane schließlich.
Marilyn sah so aus, als hätte er etwas anderes erwartet.
"Ich weiß, sie sind Schafe, ich weiß, was Schafe der Menschheit angetan haben, aber ich weiß auch, dass diese Generation, die wirklich schuldig war, bereits nach Ende des Krieges ausstarb. Das in unserem Gehege sind junge Tiere, unschuldig... Und wir behandeln sie, als wären sie die Ursache unserer kläglichen Umwelt..." sagte Auriane sichtlich nervös mit wilden Gesten.
Marilyn verschränkte seine Arme und schloß seine Augen so, als hätte er es gar nicht gewollt und es wäre eine Reflexreaktion auf das Wort "Schafe" gewesen. Seine Pupillen kreisten wild unter den Lidern umher. Seine Vergangenheit schien in eingeholt zu haben.
"Marilyn... es tut mir leid, ich kann mir vorstellen, wie das jetzt für dich sein muss, aber bitte hör mir zu..." versuchte Auriane Marilyn wieder aus seinem Tagalbtraum zu wecken.
Marilyn zuckte leicht zusammen, stützte seinen linken Ellbogen auf der rechten Hand und versteckte sein Gesicht hinter der linken, indem er sich an die Stirn griff.
Auriane wollte gerade etwas sagen, als Marilyn plötzlich zu murmeln begann. "Was hast du vor? Hast du überhaupt etwas vor? Willst du etwa die Menschheit zurückschlagen, so wie es Muddasheep vorhatte und auch ausführte?"
Die Traurigkeit in seiner zitternden Stimme war nicht zu überhören. Auriane erkannte ihn nicht wieder. Trotz ihrer Bekanntschaft, die schon seit zwölf Jahren existierte (Marilyn hatte ihnen des öfteren einen Besuch abgestatten), hatte sie ihn noch nie so erlebt.
Auriane blickte vor sich ins Leere und meinte dann: "Vielleicht."
Marilyn erhob seinen Kopf aus seinem Versteck und sah Auriane mit einem ernsten und beinahe durchdringenden Blick an. "Du willst die Schafe rächen?"
"Die neue Generation, ja. Vielleicht... wie gesagt. Die Idee klingt gut und stößt auf keine Widersprüche in meinem Kopf." Auriane versuchte so überzeugend wie möglich zu klingen.
Marilyn stand ohne ein Wort auf und verließ den engen Raum durch eine kleine Öffnung, die mittels einer Spannplatte verdeckt wurde. Auriane vernahm ein lautes Krachen nach dem anderen. Marilyn versuchte entweder sich gegen einen Einbrecher zu wehren oder er suchte krampfhaft nach etwas.
Auriane erschrak ein wenig, als sie Marilyn wieder zu Gesicht bekam. Er weinte. Vielleicht vor Wut, oder weil die Krallen seiner Vergangenheit in seinem Rücken steckten und dank der Widerhaken so schnell nicht loslassen würden.
Seine rechte Hand hielt ihr auf einmal etwas entgegen. Ein langer hauchdünner Gegenstand, der trotz seines Aussehens unheimlich stabil wirkte. Eine lange Klinge, die nicht einen Kratzer aufwies und in eine nach beiden Seiten ausschweifende Verzierung und einem kugelförmigen blau funkelndem Edelstein endete. Auriane konnte den Griff nicht erkennen, da er von weißer geschmeidiger Schafswolle umgeben war.
"Was ist das?" fragte Auriane zögernd. Die Spitze der Klinge ragte exakt ihrer Nasenspitze entgegen. Ein Erdbeben würde ihrem Tod ein leichtes Spiel geben.
"Du erkennst es nicht?" Marilyn klang beinahe spöttisch.
Auriane bewegte behutsam den Kopf nach links und dann nach rechts. "Nein." gab sie von sich.
"Das Schwert von Muddasheep, zu dem Zeitpunkt der Anfertigung trug Muddasheep noch mehrere Beinamen, an die sich aber mein Gedächtnis nicht erinnern kann... will..." Er senkte die Klinge. "Der schafmung..." Seine Augen schienen den Glanz des Schwertes wiederzuspiegeln.
Auriane starrte den Mann vor ihr an. Er war fasziniert von der Waffe, den einst der Führer der weltweit größten Organisation gegen den Menschen bei sich getragen hatte. Es war seine Kreation, sein Beitrag zum Krieg gegen den Menschen.
Er drehte das Schwert um und hielt es an der Klinge, als bestehe keine Gefahr, sich zu verletzen oder als wäre die Hand mit der Waffe so gut befreundet, dass sie sich gegenseitig nichts antun konnten. Der Griff des Schwertes näherte sich Aurianes Gesicht.
"Nimm. Nichts könnte die Schafheit besser unterstützen, als die Hauptwaffe, die diese Spezies bei ihren Eroberungen unterstützt hatte." sagte Marilyn, dem es nicht einmal aufzufallen schien, dass gerade eine seiner Tränen die Klinge streifte und in zwei Hälften zerschnitten wurde.
Auriane erhob sich langsam, betrachtete das Schwert, dann sah sie in Marilyns Gesicht. Die Glühbirne flackerte wild, als versuche sie, in die Szene einzugreifen. Der Wind rüttelte an der Stahlplatte und heulte laut los, als er endlich ins Innere eindringen konnte. Wie wenn der Wind Auriane vor unüberlegten Schritten zu warnen versuchte, zersauste sich plötzlich ihr Haar.
Doch sie hatte es sich sehr gut überlegt. Schon immer wusste sie, dass der Mensch das Unheil der Welt ist, nicht das Schaf. Doch jetzt wurde es ihr erst bewusst. Genau an diesem Tag. Bereits ihre Träume verrieten ihr, dass heute tiefgehende Veränderungen eintreten würden.
Ihre rechte Hand verschwand in der Wollverkleidung und sie spürte, wie sich der Griff ihrer Hand anlegte. Sie sah Marilyn tief in seine errötenden Augen. Aus seiner um die Klinge geschlossene Hand trat plötzlich dunkles zähflüssiges Blut hervor und breitete sich auf dem sandigen Boden aus.
"Tu, was dir dein Gewissen flüstert, Auriane. Tu, was du tun musst. Handle nach den Worten, die aus dem bereits geschriebenen Lebensbuch dir entgegenfliegen. Sie müssen wissen, was deine Rolle auf dieser Welt enthält." Seine Stimme klang plötzlich fremd. Allmählich wurde Auriane bewusst, dass sie Marilyn nie wirklich gekannt hatte. Plötzlich schoss ihr ein Gedanke in ihren Kopf der vor ihren Augen zu einer Frage explodierte und sofort ihre Zunge anregte. "Warum fristest du dein Dasein wirklich so weit entfernt von der menschlichen Gesellschaft? Wurdest du wirklich nicht aufgenommen? Oder läßt dich etwas in dir dich nicht unter Menschen wandeln?"
Marilyns Gesicht regte sich nicht ein bisschen, trotz des immer größer werdenden Radiusses der Blutlache auf dem Boden, des Windes und der soeben empfangenen Frage. Schließlich ließ er die Klinge los und hinterließ einen hässlichen Abdruck auf ihr. Sein Arm sank zurück, bis er an Muskelkraft verlor und nur mehr der Schwerkraft entgegen sah.
"Ich tötete Muddasheep." Die Worte aus Marilyns Mund schienen die Ohren von Auriane so aufzuschlitzen, wie die Klinge die Hand von Marilyn. Ohne es zu merken, ließ Auriane ihren Unterkiefer nach unten sinken. "Du warst nie Sklave. Du hast das nicht erleben müssen was ich erleben musste. Der Mensch mag ein Ungeziefer sein, ein Bastard, ein Ignorant, ein Egoist. Doch selbst er fühlt Schmerzen, seelische, wie auch physische. Und irgendwann ist das Fass übergelaufen. Ich habe ihn im Schlaf überrascht mit seinem eigenen Schafmung, das neben seinem Bett ruhte. Ich befreite weitere menschliche Sklaven und kämpfte mit ihnen gegen die Wachposten der EFOM-Armee, verließ das Schafviertel und suchte verlorene Nester der Überlebenden mittels der speziell dafür angefertigten Gerätschaften der Schafe... Der Rest sei Geschichte. Und vielleicht bald sogar wieder Science-Fiction. Nur ein kleiner Juckreiz an der Schafherrschaft." Marilyn hatte sich während seiner Erzählung nicht ein einziges Mal gerührt. Wie einen auswendig gelernten Text fügte sich ein Satz an den anderen.
Auriane war schockiert. Erschaudert. Ein kalter Windstoß strich ihr über den Rücken. Die Glühbirne fiel aus und das schwache Tageslicht erhellte den Raum, sodass die meisten Schatten noch erkennbar waren. Das Gesicht von Marilyn bewegte sich noch immer nicht. Selbst das Schließen der Augen war keine Bewegung. Es fehlten die Bilder dazwischen.
Sie verstand nicht. Sie wollte nicht verstehen. Sie sah vor sich den Menschen, der ihr Aufwachsen mitangesehen hatte und gleichzeitig den Menschen, der auch dafür eine fast elterliche Verantwortung trug, als wäre er der Zeuger gewesen, nicht ihr leiblicher Vater. Doch, hätte er seine Wut ruhen lassen, wäre sie jetzt nicht in dieser Situation. Sie musste alles wieder in die korrekte Bahn treten. Sie musste seinen Dreck aufwischen. Marilyn hatte durch die Zerstörung seiner Gegner einen weiteren erschaffen.
Auriane vergaß fast, dass ihre Hand noch immer den Schafmung umklammerte. Ihre Finger krallten sich tiefer in den Griff und übertrugen die Kraft auf das Schwert, das sich nun erhob.
Sollte sie zustoßen? Marilyn regte sich nicht. Erwartete er es? Akzeptierte er bereits sein Ende? Auriane holte aus. Die Glühbirne meldete sich durch ein wütendes Flackern zurück. Aufgeschreckt fuhr Auriane herum. Der Wind heulte und flüsterte unverständliche Worte. Die Stahltüre zitterte. Ihr Kopf drehte sich in Richtung Marilyn und ein heftiger Schlag erschütterte ihren Schädel.
"Hab keine Angst." waren die Worte, die Auriane auf dem Weg in die Bewusstlosigkeit begleiteten.

Ein verschwommener Fleck zeichnete sich am rechten Rand ihres Blickfeldes, umgeben von grünem Schimmern und einer blauen Decke. Schwarze Tentakeln gierten nach dem Fleck. Auriane spürte eine leiche Windböe durch ihr Haar streichen. Ihre Lider waren schwer, der erwartete Schmerz in ihrem Kopf blieb überraschenderweise aus. Im selben Moment, in dem sie aufzustehen versuchte in dieser Umgebung, die nur aus einem Traum stammen konnte, klärte sich ihr Blick auf. Der Fleck entpuppte sich als ihr Pferd. Es stand gesattelt und geduldig da, die Leine war mittels eines Holzpflocks an den Grasboden befestigt und es schien auch weder an Hunger noch an Durst zu leiden. Etwas erschrocken erkannte sie, dass die Tentakeln aus ihrem Kopf wuchsen und eigentlich Strähnen ihres Haares darstellten, die im Wind Wellen schlugen. Sie konnte es nicht glauben, als sie plötzlich auf den Beinen stand. War sie nicht vor ein paar Sekunden noch ohnmächtig gewesen?
Sie starrte in den klaren wolkenlosen Himmel. Die Sonne schien auf ihren Körper und ihre leichte Rüstung.
Rüstung?
Auriane sah an sich hinab und bemerkte erst jetzt, dass sie eine Rüstung trug mit EFOM-Aufdrücken auf den Oberarmen, der Brust und dem Rücken. Etwas blendete sie aus den Augenwinkeln. Sie folgte dem Schimmern.
Im tanzenden Gras, das sich bis in den Horizont erstreckte und um Auriane herum nicht aufzuhören schien, steckte der Schafmung. Das dünne Schwert bewegte sich trotz des Windes nicht und ließ den Ort noch surrealer wirken, als zuvor.
Langsamen Schrittes wagte sie sich auf das Schwert zu und zog es mit einem kräftigen Ruck aus dem Boden.
Das Pferd wieherte plötzlich, als wollte es bestätigen, dass Auriane soeben das richtige getan hätte und sich beeilen sollte. Aus welchem Grund auch immer.
Auriane erwartete eine Halterung für ihr Schwert an der Rüstung, jedoch entdeckte sie keine. Vielleicht war da jemand der Meinung, sie würde so etwas nicht nötig haben. Nicht jetzt.
Sie marschierte auf ihr Pferd zu, das bereits etwas ungeduldiger mit den Hufen auf den Boden klopfte. Schwungvoll setzte sie auf und erblickte plötzlich, dass die Graslandschaft etwa zwanzig Meter von ihr entfernt in ein Gefälle endete. Rasch ritt sie hin. Der Wind schien ihr mit der Hand auf den Rücken zu greifen um ihre Geschwindigkeit zu erhöhen.
Ein großes Tal erstreckte sich vor ihren Augen. Gewaltige Stadtüberreste fristeten hier ihr Dasein. Inmitten dieses Tales und der verfallenen Gebäude wuchs ein gewaltiges Schloß aus dem Boden. Es war beinahe perfekt in ihrer quadratischen Form. In jede Himmelsrichtung zeigte ein Wachturm, deren Dächer jeweils in eine Stange mit einer daran befestigten roten Fahne endeten. Eine geschlossene Zugbrücke war an einer Seite angebracht, die, wenn sie offen wäre, über den breiten Burgwassergraben führen würde.
Auriane wusste, was zu tun war. Woher, ließ sich nicht in ihren Gedanken abfragen. Hatte sie Marilyn hierhergebracht? Er würde wissen, wo die Menschen ihre Gefangenen unterbringen. Hier sah es zumindest nach einem Schloß aus, das zu einem Gefängnis umfunktioniert worden war. Mehrere Patrouillen kontrollierten die Außenwände des Schlosses.
Die Wolle des Schafmungs sog sich an ihre rechte Hand an. Auriane musterte die Wachen, erhob den Schafmung und trat dem Pferd mit den Fersen hart in die Seiten, worauf es wütend losritt.
Sie schnellte den Berg hinab, wobei das Pferd vor lauter Eile beinahe gestolpert wäre. Mit unglaublicher Geschwindigkeit passierte sie die Ruinen, die einst voller Leben steckten. Vorbei an toten Restaurants und Hotels. Einfache Wohnhäuser wirkten, als würden sie bereits seit Jahrtausenden hier stehen und auf endgültige Verrottung warten. Doch das alles schien unwichtig. So unwichtig wie die Erbauer dieser zerstörten Häusern selbst.
Auriane ritt, bis nicht nur ihr Pferd kaum mehr Luft besaß. Noch immer hielt sie ihren Schafmung hoch. Die Wachen waren bereits alarmiert und bereiteten sich auf etwas vor, was sie nicht erwarten konnten, weil sie es bis heute noch nie erlebt hatten.
Staub wirbelte auf, als das Pferd über ein schwarzes, düsteres Skelett eines Autos sprang und wieder auf der Erde aufkam, um wieder die Hinterbeine zurückzustemmen und weiter dem Schloß entgegen zu rasen.
Geschosse jagten rund um sie in die Häuserwände ein und schossen Staubfontänen in die Luft. Der schafmung klirrte zornig auf, als es von einem dieser Geschosse getroffen wurde. Auriane erwartete ein heftiges Vibrieren, das aber dank der Wolle kaum spürbar war.
Endlich erreichte sie das Schloß, der erste Wächter musste mit erstauntem Blick den Schafmung streifen. Auriane richtete ihr Schwert in die andere Richtung und schnitt quer durch einen weiteren Wächter hindurch, der wortlos seine Waffe fallenließ und zu Boden sank. Weitere Menschen spürten die Kraft des Schafmungs und den Zorn, mit dem Auriane ihr Schwert führte. Kugeln prallten gegen ihre Rüstung, die sie jedoch nicht zu spüren vermochte. Ihr Schafmung schnitt Kehlen durch, zertrennte Blutgefäße, zerstörte funktionierende menschliche Organismen. Die Zugbrücke fuhr mit einem lauten Kreischen zu Boden und wirbelte massig Staub auf, durch den eine Armee gewalttätiger menschlicher Krieger hindurchtrat. Mit schweren Schritten und einfallsreichen Geschützen (verschiedene neue Waffentypen, die von Muddasheep stammten) versuchten sie vergeblich die Kriegerin mit dem strahlendem Schwert auf dem schwarz schimmerndem Pferd aufzuhalten. Explosionen links und rechts, das Trommelfell von Auriane versuchte sich zu wehren, wurde aber vom Zorn wieder zurückgedrängt an ihren Posten, diesmal mit doppelter Kraft.
Jede Kugel die sie traf, jede Explosion, die ihre Rüstung erhitzte, ließen ihr Schwert präziser und kräftiger führen, ihr Pferd noch wilder herumwüten. Sie drehte Runden um das Schloß, hinterließ einen blutigen Weg aus verschiedensten menschlichen Körperteilen. Ihre Gegner waren zusätzlich noch geschwächt durch die immer dichter werdende Staubwolke und den immer schlimmer werdenden Lärm. Auriane ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie wurde immer schneller, wütender, stärker. Die Feuerwände um sie wuchsen, der Lärm ähnelte einem Krieg, unterbrochen vom Lauten Klirren des Schafmungs, wenn es auf menschliche Waffen traf.
Einen Wächter erwischte sie mit dem linken Bein, beinahe aus Versehen, vielleicht Reflex. Als sie bereits ihren Schafmung in den Körper eines anderen senkte, bemerkte sie, dass der Wächter auf einem spitzen Gegenstand, der aus einem Müllhaufen ragte, landete, der sich quer durch seinen Kopf bohrte.
Und wieder eine Erschütterung, wieder Splitter, die auf ihre Rüstung prasselten, wieder Schüsse von allen Seiten. Auch wenn anfangs die menschliche Armee beinahe unendlich groß wirkte, schrumpfte die Anzahl der Lebenden jedoch sehr schnell und deutete auf ein baldiges Ende hin.
Wieder ein Kopf vom Rumpf abgetrennt, wieder ein Schrei, wieder ein Körper, der ohne Arme ins Wasser stürzte. Auriane bemerkte es kaum mehr. Wut, Zorn und Rache übernahmen für sie ihre Bewegungen. Der Mensch sollte büßen.
Sie riss ihr Pferd herum und sprang mit einem Satz über die Brücke in das Innere des Schlosses. Hinter den Hinterbeinen des Pferdes blitzten Kugeleinschläge auf, die von oben herabdonnerten. Auriane pendelte instinktiv hin und her, bis sie schließlich an einer breiten Treppe angelangte, die sich leicht nach links bog. Ein weiter Gang erstreckte sich vor ihren Augen. An der rechten Seite waren unzählige Zellen eingerichtet, das Licht war spärlich alle zehn Meter an der Decke angebracht. Auriane überlegte nicht lange und während sie die Treppe mit ihrem Pferd heruntersprang hielt sie ihren Schafmung in Höhe der Schlößer, die an jeder Zellentür angebracht waren. Wieder traten die Fersen in den Bauch des Pferdes. Ein Schloß nach dem anderen blitzte auf, kurz darauf flogen die Gittertüren zur Seite und die EFOM-Soldaten traten heraus. Auch wenn sie ohne Rüstung und Waffen waren, erkannte man sie an ihrem harten und selbstsicheren Auftreten. Sofort liefen sie hinter Auriane her, auch wenn sie zehn Mal so schnell war, wie die Füße der Soldaten zuließen. Der Gang wollte nicht aufhören. Wieder und wieder sprengte ein Schloß auf und die Gittertür knarrte zur Seite. Der Jubel der Soldaten wurde immer größer und lauter. Die Wollflut hinter Auriane wuchs.
Schließlich war auch das letzte Schloß aufgebrochen. Auriane keuchte etwas, ebenso das Pferd, dessen Körperwärme immer mehr zu steigen schien. Sie verließ die Zellen wieder durch eine Treppe am anderen Ende des Ganges. Sie gelangte auf den Hof, wo sie bereits erwartet wurde, auch die Schafsoldaten. Es hagelte Kugeln. Die Rüstung von Aurianne legte jedem Volltreffer einen Einspruch entgegen. Die Schüsse, die auf die Soldaten eintrafen, verloren in der dicken antrainierten Wolle ihre Durchschlagskraft und verweilten in dem weichen Umfeld, ohne Schaden angerichtet zu haben.
Auriane und die gewaltige Schafarmee stürmten auf die menschlichen Männer los. Einige Schafe erklommen die Türme, um den Schützen den Garaus zu machen, andere kümmerten sich mit bloßen Fäusten oder Waffen der Gegner um die plötzlich eintretende Verstärkung. Selbst Auriane zog wieder ihre Spuren in den gegnerischen Reihen, obwohl ihre Hauptaufgabe eigentlich bereits erledigt war. Dem Schafmung lüsterte es jedoch weiter nach menschlichem Lebenssaft und Auriane gab sich dem Schwert hin. Das Pferd bewegte sich beinahe wie in Trance.
Der unangekündigte Regen mit der Unterstützung von Blitzen und Donnern ließ das Schlachtfeld zusätzlich unmenschlicher erscheinen. Auriane hielt ihr Pferd mit aller Kraft an, widerstand dem Willen des Schafmungs für einen kurzen Augenblick, um sich der Nässe aus den wuchtigen dunklen Wolken am Himmel zuzuwenden. Sie blickte in das Gemälde am Horizont, sah dann nach oben, sodass Tropfen ihr Gesicht direkt benetzten. Sie vergaß die Todesschreie und die Schüsse um sie.
Sie hatte die Schafheit befreit. Der Mensch würde ein weiteres Mal am Rande der Ausrottung stehen. Vielleicht dieses eine Mal den Rand sogar überschreiten und sich in den grauenhaften Schluchten der Hölle verlieren. Auriane wusste es nicht, was nach diesem Ereignis passieren würde. Jedoch war ihr eines klar. Sie war ebenfalls ein Mensch. Genauso wie die Wächter, die gerade um ihre Gestalt ihr Leben ließen. Irgendwann würde sie ihren Schafmung gegen sich selbst richten müssen.